Lebensbeschreibung

Ein stiller Zeuge

In unserem Wohlstandsland ist uns oft nicht bewusst, dass wir für das „tägliche Brot“ von Gott abhängig sind. Viele haben aber eindrückliche Erfahrungen gemacht, dass das wirklich so ist. Dazu gehört der Chinamissionar G.C. Willis, der während des zweiten Weltkriegs in einem Internierungslager der Japaner gefangen gehalten wurde.

G. Christopher Willis wurde 1887 geboren und ging 1921 nach China, um dort für den Herrn zu arbeiten. Er betrieb Buchläden und schrieb mehrere Bücher, von denen einige auch ins Deutsche übersetzt worden sind1. Im Jahr 1943 wurde Willis von japanischen Soldaten in ein Internierungslager gebracht, wo er über zwei Jahre gefangen gehalten wurde. Seine Erlebnisse in dieser Zeit hat er in dem Buch „I was among the captives“2 („Ich war unter den Gefangenen“) niedergeschrieben.

Aus diesem Buch stammt folgender (frei übersetzter) Bericht: Eines Tages, als wir wieder einmal ernstlich für die Situation im Lager beteten, kam mir plötzlich die Idee, dass ein Wand-Bibelspruch die Leute im Lager vielleicht ansprechen würde – denn mit unseren Lippen durften wir in der Öffentlichkeit nicht von Jesus Christus reden. Und auch mit Einzelnen kam man nicht ins Gespräch, da uns kaum Privatsphäre zugestanden wurde. So schloss ich, dass der Essenssaal am geeignetsten wäre, um solch einen Text aufzuhängen. Dort gab es am Ende des Raums ein großes Fenster hoch oben an der Wand. Genau darunter, im Blickfeld des ganzen Saales, schien mir der beste Platz, den Spruch anzubringen. Ich konnte mir lebhaft den Sturm an Protesten vorstellen, den er bewirken würde. Daher räumte ich diesem Anliegen einen besonderen Platz in meinen Gebeten ein und bat darum, dass Gott uns die richtigen Worte geben möge. Der ausgewählte Text sah dann folgendermaßen aus:

UNSER  VATER
der du bist im Himmel
geheiligt werde dein Name 
• • •
Unser tägliches Brot gib uns heute

Der Wandspruch war, wenn ich mich richtig erinnere, ungefähr 150 x 90 cm groß. Der einzige Platz, wo ich daran arbeiten konnte, war mein Bett; doch ich hatte ein altes Zeichenbrett, das eine große Hilfe war.

Wir wussten, dass es nutzlos sein würde, das Lagerkomitee um Erlaubnis zu fragen, ob wir den Text aufhängen dürften. Sie hätten es niemals erlaubt. Also verging Nacht für Nacht, in der ich heimlich so gut wie möglich daran arbeitete, und in der sich eine kleine Gruppe Gläubiger traf und betete, dass der Herr seine Hand über den Wandspruch und den dafür vorgesehenen Platz halten möge. Gott erhörte unsere Gebete. Mehr als wir uns jemals hätten träumen lassen.

Ich brauchte etwa drei Wochen, um den Text fertigzustellen. Ich hatte mir ausgemalt, dass er das erste Mal an einem Sonntagmorgen präsentiert werden sollte. Zur Zeit des Abendessens am Samstagabend wusste ich, dass ich nur noch zwei oder drei Stunden brauchen würde, um mein Werk zu vollenden. So fragte ich unseren Vorsitzenden Mr. Grant, wann er morgens aufzustehen pflegt. Wahrscheinlich fand er meine Frage unverschämt, dennoch antwortete er großmütig, dass er jeden Morgen gegen sechs Uhr auf den Beinen wäre. Also fragte ich ihn, ob er sich mit mir am nächsten Tag um kurz nach sechs im Essenssaal treffen könnte. Er stimmte zu, und ich eilte in mein Zimmer, um den Text pünktlich fertigzustellen. Die kleine Gruppe Gläubiger traf sich auch wieder, um zu beten. Gerade als ich die letzten Striche des Textes fertigstellte, schlabberte ich zwei große Tropfen Tinte über ein paar der Buchstaben.

Genau dann war es Zeit ins Bett zu gehen und alle Lichter gingen aus.

Ich war schon fast am Verzweifeln, doch letztendlich schaffte ich es, die Fehler zu beheben. Um etwas Licht zu haben, zündeten wir eine Kerze an. Dies war ein gefährliches Unterfangen, denn die Wächter kamen gewöhnlich sofort mit ihren Taschenlampen und Gewehren in unsere Zimmer, wenn sie irgendwo Licht sahen. Doch in dieser Nacht kam niemand.

Am nächsten Morgen gegen halb sechs war ich unten im Essenssaal und brachte den Wandspruch mit Heftzwecken an der Wand an. Kurz darauf kam Mr. Grant herein und ich wartete, wie sein Urteil ausfallen würde. Er war ein fairer und ehrenhafter Mann und ich wusste, dass ich von ihm eher eine positive Bestätigung bekommen würde als vom Vorstand des Lagers. Für einige Minuten sagte er nichts, sondern schaute sich den Text lediglich sehr sorgfältig an. Dann fragte ich: „Darf er hängen bleiben?“ Er zögerte zunächst, antwortete dann jedoch: „Warum nicht? Ja, er darf hängen bleiben. Er ist ehrfürchtig und gut gemacht. Er darf hängen bleiben.“ Ich beschloss die Gunst der Stunde zu nutzen und fragte: „Dürfte ich auch noch einen für das andere Ende des Raums machen?“ „ Ja“, antwortete er, „tue das und komm dafür ins Büro, wo du einen Platz hast und einen Tisch, an dem du arbeiten kannst.“ Ich verbeugte mich tief, so dankbar war ich.

Zu meinen Aufgaben im Lager gehörte, dass ich morgens immer Brot schnitt und Wasser und Tee zum Frühstück ausschüttete. Das bedeutete, dass ich meistens schon gegen halb sechs aufstehen musste. Während ich auch an diesem Morgen meine Arbeit tat, war der Text genau über unseren Köpfen. Es war sehr interessant all die vielen Kommentare zu hören. „Was ist das da?“ „Wer hat das gemacht?“ „Hängt es ab!“ „Ach, es hängt nur da, weil heute Sonntag ist. Morgen wird es wieder verschwunden sein.“ „Wer hat das ohne Erlaubnis einfach aufgehängt?“ „Wir werden das schon noch herausbekommen.“ Und ab und zu war auch eine positive Bemerkung von jemandem zu hören, der Gottes Wort liebte und wertschätze.

Ich hatte Mr. Grant gebeten, nicht zu verraten, wer den Text hergestellt hatte, und so blieb es für mehrere Tage ein Geheimnis. Wie vermutet verursachte der Spruch einen großen Aufruhr. Das Lagerkomitee diskutierte darüber und es sprach sich gegen den Text aus, da es den Katholiken und Juden zum Anstoß sein würde. Der Oberste der Katholiken kam dann eines Tages zu mir und sagte: „Es gibt eine Sache, die uns an diesem Text stört.“ „Was denn?“, fragte ich. „Solch ein Text braucht einen Rahmen. Ich bin Zimmermann. Wenn du Holz auftreiben kannst, mache ich dir einen schönen Rahmen, und dann werden alle wissen, dass es nicht die Katholiken sind, die sich an diesem Text stören.“ Das einzige Holz, das ich finden konnte, war das aus dem Rahmen meines Bettes. Es war sehr hartes Holz und eignete sich deshalb gut. Auch die Juden sandten ein kleines Komitee, das mit seinem Gebetsbüchlein vorbei kam und aufzeigte, dass jedes Wort dieses Texts in ihrem Gebetsbüchlein zu finden war. Deshalb ließen sie verlauten, dass sie den Text mochten und hofften, dass er hängen bleiben würde. So verliefen sich die „Begründungen“ des Lagerkomitees im Sand. Wieder einmal knieten wir voller Dankbarkeit nieder.

Es mag einige Monate später gewesen sein, nachdem sich jeder an den Text gewöhnt hatte, als der Entschluss gefasst wurde, ein Theaterstück aufzuführen. Dieses sollte im Essenssaal stattfinden, auf den stabilen Tischen der Bäckerei als Bühne, genau unter dem Text. Irgendwie dachte man sich, dass es nicht so recht passen würde, wenn der Text während des Stücks an der Wand hängen würde. Deshalb nahm man ihn ab und stellte ihn in eine Ecke des Raums. Am nächsten Morgen war der Raum wieder aufgeräumt und die Tische zurück zur Bäckerei getragen. Nur den Text hatte man in der Ecke stehen lassen. Als es an der Zeit war, das Brot zu schneiden, hörten wir die traurige Nachricht: „Keine Brotrationen heute; die Bäckerei hat keins geliefert.“ (Ich glaube, das Mehl war schlecht geworden). Das tägliche Brot war im wahrsten Sinne des Wortes unser Grundnahrungsmittel und ohne Ersatz waren wir sehr hungrig. Jeder war betroffen, und am nächsten Tag war es genauso. Als der dritte Tag anbrach und es immer noch kein Brot gab, schwoll das Gemurmel im Essenssaal an und im ganzen Lager konnte man immer wieder hören: „Es ist wegen des Textes. Sie haben den Text ,Gib uns unserer tägliches Brot heute‘ runter genommen und seitdem gibt es kein Brot mehr.“ Anderswo sagte jemand: „Der Text ist unser Maskottchen. Wir müssen ihn wieder aufhängen.“

Die Stimmung im Lager wurde so aufgeladen und wir waren alle so hungrig, dass sogar diejenigen, die den Text abgehängt hatten, sich nun dazu berufen fühlten, ihn wieder aufzuhängen.

Einige Monate vergingen. Dann wurde im Lager erneut ein Theaterstück aufgeführt. Die Bühne wurde wie beim ersten Mal hergerichtet, doch anstatt den Text herunter zu nehmen, wurde ein schwerer Vorhang davor gehängt, und an den Vorhang wurde ein sehr gut gemaltes Bild angebracht, das eine Waage und ein Schwert zeigte, welches „Gerechtigkeit“ symbolisierten sollte. Am folgenden Tag wurde wieder alles aufgeräumt, doch der Vorhang mit dem Bild wurde hängen gelassen, sodass der Text nicht zu sehen war.

Und wieder gab es kein Brot. Ich glaube, dieses Mal lag es an der Hefe. Im Lauf des Tages, als wir immer wieder das Bild mit der Waage und dem Schwert anschauten, bemerkte meine Frau, dass dies eine gute Möglichkeit wäre, die wir nicht einfach vorstreichen lassen sollten. Als wir am nächsten Morgen zum Frühstück in den Saal kamen, waren über der Waage und dem Schwert zwei Zeilen geschrieben:

TEKEL
Du bist auf der Waage gewogen
und zu leicht befunden worden
Daniel 5,27

Ich sah, wie Mr. Grant leise in sich hinein lachte, als er zum Frühstück ging, und als er an mir vorbei ging, flüsterte er mir zu: „Ich stelle fest, dass Sie eine Gelegenheit zu nutzen wissen.“ Ich fragte: „Verstehen Sie es?“ „Oh ja, ich verstehe es sehr gut!“, antwortete er. Doch wie man sich denken kann, war der Rest des Lagers nicht ganz so erfreut wie Mr. Grant. Das ganze Lager war ärgerlich, dass es schon wieder kein Brot gab, und von allen Seiten hörte man die Aufforderung: „Nehmt den Vorhang ab!“ Wieder einmal waren die Gegner der Wahrheit dazu gezwungen, sich geschlagen zu geben, und der Vorhang wurde abgenommen, sodass der alte Text mit all seiner Wirkungskraft zum Vorschein kam. Kurz darauf bekamen wir auch wieder Brot.

Einige Monate später, zum dritten Mal nun, wurde der Text abermals abgehängt und diesmal hinter das Klavier geworfen. Und wieder gab es kein Brot an diesem Tag!. Letztendlich kam ein Mann aus dem Lager zu mir und schlug vor: „Diesen Text sollte man festnageln, damit ihn niemand mehr herunter nehmen kann.“ Ich fragte ihn: „Ich weiß, dass Sie sehr gut mit Werkzeug umgehen können. Möchten Sie ihn festnageln?“ „Sehr gerne“, antwortete er. Mit langen Nägeln wurde der Text nun an der Wand angebracht; so fest, dass niemand mehr wagte, ihn abzunehmen. Er hing bis zum Ende, als das Lager abgebaut wurde, dort und wies still auf das Gebet hin:

UNSER TÄGLICHES BROT
GIB UNS HEUTE

Und es mangelte nie mehr an Brot.3

Fußnoten

1 Sein Buch „An die Eltern meiner Enkelkinder“ ist noch erhältlich und kann beim Herausgeber von „Folge mir nach“ bezogen werden. Es handelt sich um eine gekürzte Version des Originals, das in englischer Sprache ebenso bei der CSV erwerbbar ist.

2 Dieses Buch in englischer Sprache kann ebenfalls bei der Christlichen Schriftenverbreitung bezogen werden (www.csv-verlag.de).

3 Für die wahren Gläubigen war dieser Text natürlich kein Maskottchen oder ein mystischer Gegenstand, der für das Vorhandensein von Brot sorgte, sondern nur der sichtbare Hinweis darauf, dass Gott zu seinem Wort steht. Da wo sein Wort „im Blickfeld“ bleibt, wird auch sein handeln „sichtbar“.