Biblische Begriffe

Gewalt

Die Erläuterungen, die wir unter dieser Überschrift den Lesern vorstellen, haben nicht das Ziel, eine "theologische" Deutung zu geben, sondern sollen einfach Begriffe, die heute vielleicht anders verstanden werden oder auch ungebräuchlich geworden sind, erklären. Dabei möchten wir jeweils auf ihren Gebrauch im Zusammenhang der Heiligen Schrifteingehen. Dies kann natürlich kaum in erschöpfender Weise geschehen, könnte aber vielleicht dazu dienen, Denkanstöße für unsere Praxis als Christen zu geben.

Gewalt

In welchem Sinn verstehen wir heute den Begriff Gewalt? Es wird häufig von Gewalt gesprochen. Meist meint man da mit Gewaltanwendung, die brutal, handgreiflich oder auch "nur" verbal (= mit Worten) geschieht. Von den einen wird zu gewaltsamem Widerstand aufgerufen, andere möchten lieber von der gandhischen Strategie der Gewaltlosigkeit reden. In all diesen Ausdrücken findet sich das, was im Alten Testament "Gewalttat" genannt wird (so z.B.1.M06,11; 49,5, Ri 9,24; Ps 11,5; Ps 27,12 u.a.). Dies hat zu tun mit Härte, ja Brutalität, die verletzen, zerstören oder sogar töten will, um gewisse eigene Ziele zu erreichen.
Einen anderen Sinn hat der Begriff Gewalt in der deutschen Sprache in dem Wort Gewaltenteilung (in "legislative, exekutive und rechtsprechende Gewalt") im Bereich der modernen Staatsverfassungen. Gewalt in diesem Sinn hat vom Grundsatz her nichts zu tun mit Anwendung von (handgreiflicher) Gewalt, obwohl auch dies zu ihren, dann aber klar definierten, Befugnissen gehören mag.

Der Begriff der Gewalt in der Heiligen Schrift

In verschiedenen Übersetzungen des Neuen Testaments (so in der nicht rev. Elberfelder, in der alten Lutherbibel u.a.) findet sich der Begriff Gewalt in dem eben genannnten Sinn sehr häufig (mehr als hundertmal). Es ist die Übersetzung des griechischen exousia. Es wird in einigen Fällen auch mit Recht, Macht bzw. mit Herrschaftsgebiet übersetzt. In neueren Übersetzungen wird dieses Wort mit Begriffen wie "Vollmacht", "Macht", "Verfügungsrecht" wiedergegeben.
Aus diesen unterschiedlichen Ausdrücken, die die Übersetzer jeweils dem Sinnzusammenhang entsprechend gewählt haben - und sie haben dies in jedem Fall gut und gründlich abgewogen -, wird erkennbar, welches Bedeutungsspektrum das griechische Wort besitzt. Es könnte in vielen Fällen mit unserem heute oft gebrauchten Fremdwort Autorität übersetzt werden.
Das Wort enthält nicht nur den Gedanken der "Macht", etwas auszuführen oder ausführen zu lassen, sondern auch den Gedanken des "Rechts" (und damit auch der "Freiheit"), dieses zu tun. Es kann sich beziehen auf den Bereich von Regierung, Verwaltung, Rechtsprechung oder auch die geringeren häuslichen und familiären Verhältnisse.
Ich möchte zum besseren Verständnis einige Beispiele aus der Heiligen Schrift folgen lassen, die diese Bedeutungen klarmachen.
Matthäus 9,6: "Auf dass ihr aber wisset, dass der Sohn des Menschen Gewalt [gr. exousia] hat, auf der Erde Sünden zu vergeben ... Dann sagt er zu dem Gelähmten: Stehe auf, nimm dein Bett auf und geh nach deinem Hause."
Matthäus 10,1: "Und als er seine zwölf Jünger herzugerufen hatte, gab er ihnen Gewalt [gr- exousia] über unreine Geister, um sie auszutreiben, und jede Krankheit und jedes Gebrechen zu heilen."
Die Gewalt, die hier ausgeübt wird, beinhaltet die Fähigkeit oder Macht und gleichzeitig die Autorität dazu. Matthäus 21,23: "Und als er in den Tempel kam, traten, als er lehrte, die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes zu ihm und sprachen: In welchem Recht [gr. exousia] tust du diese Dinge? Und wer hat dir dieses Recht gegeben?"
Recht bedeutet hier offensichtlich auch soviel wie Vollmacht, Autorität.
Aus dieser Stelle ist auch zu ersehen, dass dieses Recht, diese Vollmacht gegeben oder verliehen wird. Diese Bedeutung hat das Wort ja auch in unserer Alltagssprache. Will ein Rechtsanwalt jemanden vor Gericht vertreten, benötigt er eine Vollmacht, das gleiche gilt bei Geldgeschäften, die jemand für einen anderen erledigt.

Urheber und Quelle jeder Gewalt bzw. Autorität ist Gott

Autorität im absoluten Sinn besitzt nur Einer, Gott selbst. Er ist der, der als der Allmächtige anderen Wesen, die Er selbst geschaffen hat, Gewalt, Autorität, Recht, Vollmacht verleihen kann nach Seiner absoluten Souveränität (vgl. Dan 2,37).
Und dies hat Er getan: Er hat Engel mit Gewalt ausgestattet, Er hat Menschen Gewalt gegeben, um z.B. als staatliche Obrigkeit auf der Erde zu regieren und Recht zu sprechen. Es handelt sich aber in jedem Fall um eine "abgeleitete" Autorität.
Wir lesen von diesen Gewalten in den Briefen des Apostels Paulus:
a) Es gibt "Gewalten in den himmlischen Örtern" (Eph 3,10). Hier sind Engel ( = himmlische Gewalten) gemeint, die voll Erstaunen die Ergebnisse göttlichen Handelns nach Seinem ewigen Ratschluss betrachten.
b) "Erinnere sie, Obrigkeiten und Gewalten untertan zu sein, Gehorsam zu leisten" (Tit 3,1). Hier geht es um menschliche, irdische Gewalt, die anzuerkennen ist.
c) "Als er die Fürstentümer und die Gewalten ausgezogen hatte, stellte er sie öffentlich zur Schau, indem er durch dasselbe über sie einen Triumph hielt" (Kol 2,15). Hier spricht der Apostel von dem Sieg des Herrn Jesus über satanische Mächte.

Unterschiedliche übertragene Gewalt

Was die Autorität von Engeln betrifft, so heißt es in Psalm 103,20 von ihnen, dass sie "Gewaltige an Kraft" sind, "Täter Seines "Wortes". Seraphim und Cherubim als himmlische Wesen haben erhabene Aufgaben vor dem Thron Gottes, d.h. in Seiner Regierung. Gott lässt Engel die zukünftigen Gerichte einleiten (s. Offb 6-20).
Gott hat auch Menschen Gewalt übertragen. Adam sollte Gottes "Verwalter" hier auf der Erde sein, und so übte er Autorität aus. Aber auch nach dem Fall Adams setzte Gott "Obrigkeiten und Gewalten" ein, die als "Ordnungsmacht" auf einer Erde "voll Gewalttat" das Böse strafen sollten. "Es ist keine Obrigkeit, außer von Gott" (Röm 13,1). Auch ein gottloser Mann wie Pilatus hätte keine Gewalt gehabt, wenn sie ihm nicht von oben gegeben worden wäre (Joh 19,11).
In Seiner Schöpfungsordnung hat Gott ebenfalls Gewalt oder Autorität übertragen. Es mag den einen oder anderen der Leser vielleicht etwas überraschen, aber Gott hat z.B. den Mann als Haupt der Frau gesetzt — weshalb die Frau, wenn sie betet eine "Macht" auf dem Haupte haben muss als Hinweis auf ihre bereitwillige Unterordnung unter den Mann, "der Engel wegen", die zugegen sind.

Missbrauchte Gewalt und unrechtmäßige Gewaltausübung

Es gibt Engel, die die ihnen von Gott übertragene Gewalt missbraucht und gegen Gott benutzt haben: Satan und seine Engel Dämonen, auch "unreine Geister" genannt. Sie sind — wenn auch ihr zukünftiges Los schon bestimmt ist ("das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln" Mt 25,41; vgl. a. Offb 20,10) - noch in "den himmlischen Örtern" (s.a. Eph 6,12) und suchen die Pläne Gottes zu durchkreuzen und Menschen zu verführen. Satan selbst wird in 2. Korinther 4,4 der "Gott dieser Welt" (= dieses Zeitlaufs) und in Epheser 2,2 der "Fürst der Gewalt der Luft" genannt. Die erste Bezeichnung zeigt, dass Satan gegen Gott selbst und das Evangelium Gottes auftritt und sich selbst verehren lässt; der Ausdruck "Fürst der Gewalt der Luft" weist hin auf die durch Satan ganz vergiftete Atmosphäre, die der Mensch in dieser Welt atmet.
Wenn Menschen, denen Gewalt übertragen wurde, vergessen, dass auch sie unter der absoluten Autorität Gottes stehen und Ihm verantwortlich sind, dann werden auch sie sehr bald ihre Gewalt missbrauchen. Die Geschichte der Menschheit gibt dazu kaum zu zählende Beispiele.
Nach Philipper 2,10.11 müssen sie sich alle letztlich dem Herrn Jesus und Seiner Autorität unterwerfen: "Auf dass in dem Namen Jesu jedes Knie sich beuge, der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne, dass Jesus Christus Herr ist, zur Verherrlichung Gottes, des Vaters."

Gewalt des Herrn Jesus auf dieser Erde

Wenn wir die Evangelien lesen, ist für uns besonders auffällig, dass von dem Herrn Jesus an vielen Stellen gesagt wird, dass Er Gewalt hat, Sünden zu vergeben, Tote aufzuerwecken, Kranke zu heilen usw. Auffällig ist das deshalb, weil Er als der ewige Sohn, Gott der Sohn, ja durchaus in sich selbst jede Macht besitzt, jegliche Autorität und jedes Recht, "welcher das Haupt jeden Fürstentums und jeder Gewalt ist" (Kol 2,10). Aber - und dies zeigt die Verwendung eben genau dieses Begriffs der "verliehenen Gewalt" — Er hat diese Gewalt von Seinem Gott und Vater als der abhängige und gehorsame Mensch, der "Sohn des Menschen", als der wahre "Knecht des Herrn" empfangen: "Gleichwie du ihm Gewalt gegeben hast über alles Fleisch, auf dass er allen, die du ihm gegeben, ewiges Leben gebe" (Joh 17,2). Er hat auch als Sohn des Menschen Gewalt empfangen, Gericht auszuüben: "Und er hat ihm Gewalt gegeben, auch Gericht zu halten, weil er des Menschen Sohn ist" (Joh 5,27); Er ist dazu bevollmächtigt.
Als der menschgewordene Gottessohn hat unser Herr alle Gewalt empfangen. Er tat "die Werke Gottes" in Vollkommenheit. Durch Sein großes Werk der Erlösung und Versöhnung hat Er sich als der Mensch Christus Jesus alle Rechte, jede Autorität erworben, Er hat dem Widersacher Gottes, dem Teufel, die Macht genommen und ist in den Himmel gegangen, zur Rechten Gottes, "indem Engel und Gewalten und Mächte ihm unterworfen sind" (1. Pet 3,22).
Satan ist ein besiegter Feind, und der Gläubige ist mit dem Sieger eng verbunden und vereint. So sagt der Herr dem, der Seine Werke bis ans Ende bewahrt: "Dem werde ich Gewalt über die Nationen geben; ... wie auch ich von meinem Vater empfangen habe" (Offb 2,26.27).
In den letzten Worten des Herrn an Seine Jünger sagt Er ihnen: "Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden" (Mt 28,18).
Der Herr Jesus hat somit auch das Recht, Gewalt zu verleihen. Der Apostel Paulus spricht von der "Gewalt, die der Herr mir gegeben hat zur Auferbauung und nicht zur Zerstörung" (2. Kor 13,10). Offensichtlich ist hier die apostolische Autorität gemeint, die er und die anderen Apostel vom Herrn empfangen hatten. Eine vom Herrn an Petrus übertragene Autorität waren ja auch die "Schlüssel des Reiches der Himmel" (wir kennen ja auch eine sog. "Schlüsselgewalt").
Heute, wo es keine Apostel mit ihrer Autorität mehr gibt, besteht nur noch eine "Autorität', die der Herr der Versammlung (oder Gemeinde) gegeben hat, die aber gebunden ist an die Gegenwart des Herrn in der Mitte der Seinen. Es ist die Autorität, auf der Erde zu binden und zu lösen, und sie wird im Himmel anerkannt (Mt 18,18).
Sicher gibt es auch eine gewisse moralische Autorität von solchen Brüdern, die Gottes Wort "Führer" nennt, da sie durch ein dem Herrn geweihtes Leben ausgewiesen sind, und nicht weil sie diese Autorität direkt übertragen bekommen hätten.

Der Herr Jesus in der öffentlichen Ausübung Seiner Gewalt

Der Tag ist nicht fern, an dem der Herr Jesus Seine Gewalt in der Form der Gerichte über alle Feinde ausüben wird und an dem Er regieren wird, so wie Gott dies für diese Erde wollte. Er wird alle Ratschlüsse Gottes in dieser Seiner Autorität und Gewalt ausführen zur vollen Verherrlichung Gottes.
Schließlich wird der ewige Zustand eintreten, wo es keine Vollmacht und übertragene Gewalt mehr geben wird. Der Herr Jesus wird dann auch diese "Vollmacht zur Ausführung der Ratschlüsse Gottes an Gott "zurückgeben".
Wir lesen: "Dann das Ende, wenn er das Reich dem Gott und Vater übergibt, wenn er weggetan haben wird alle Herrschaft und alle Gewalt und Macht. Denn er muss herrschen, bis er alle Feinde unter seine Füße gelegt hat. Der letzte Feind, der weggetan wird, ist der Tod. Denn alles hat er seinen Füßen unterworfen." Wenn er aber sagt, dass alles unterworfen sei, so ist es offenbar, dass der ausgenommen ist, der ihm alles unterworfen hat. Wenn ihm aber alles unterworfen sein wird, dann wird auch der Sohn selbst dem unterworfen sein, der ihm alles unterworfen hat, auf dass Gott alles in allem sei" (1.Kor 15,24-28).
Rainer Brockhaus