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Schon wieder alles vergessen? Euthanasie im Dritten Reich

Zu den schrecklichen Ereignissen der Nazi-Zeit gehört auch die Euthanasiepolitik[1]. Weit weg und nur noch von historischem Interesse? Oder sehen wir hier Verhaltensmuster und Denkweisen, die nicht in Vergessenheit geraten sollten, erst recht nicht in der aktuellen Diskussion über Sterbehilfe? Werfen wir einen Blick auf die Ereignisse einer dunklen, menschenverachtenden Zeit.

Im Jahr 1920 erschien ein Buch des Rechtsanwalts Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche mit dem Titel „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Hier wird erstmals der Begriff „lebensunwertes Leben“ geprägt und die Auffassung vertreten, dass es in bestimmten Fällen gerechtfertigt sei, Menschen zu töten, die an unheilbaren Krankheiten oder schweren Behinderungen leiden. Für solche Menschen benutzte Hoche in diesem Buch den furchtbaren Ausdruck “Ballastexistenzen“. Damit wurde eine Propaganda in Gang gesetzt, die von biblischen Werten der Barmherzigkeit und Nächstenliebe Abschied nahm.

Auf der Grundlage dieser Ideen wurde Prof. Dr. Ernst Rudin, Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Psychiatrie in München, einer der wichtigsten Verfechter der Durchführung von Zwangssterilisationen. Innerhalb von vier Jahren wurden fast 300.000 Menschen sterilisiert, mehr als die Hälfte davon, weil sie „Intelligenztests“ nicht bestanden hatten. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs (1939) wurden diese Sterilisierungen unterbrochen und stattdessen mit der Tötung von erwachsenen und minderjährigen Patienten begonnen. Eltern und Verwandte von schwer behinderten Kindern traten mit dem Wunsch nach einem „Gnadentod“ an die entsprechenden Institutionen heran.

Der erste Fall, der eine traurige Berühmtheit erlangte, war der „Fall Kind Knauer“: ein Neugeborenes mit Extremitätenfehlbildungen und angeborener Blindheit, dessen Tötung mit persönlicher Autorisation von Adolf Hitler und mit Einverständnis der Eltern durchgeführt wurde. Dieser erfolgreiche „Test“ führte dazu, dass alle Kinder unter drei Jahren mit „schwerwiegenden Erbkrankheiten“ registriert wurden. Bis Kriegsende kam es zur Tötung von 6.000 Kindern durch eine tödliche Injektion oder durch Verhungernlassen (!).

Euthanasieprogramme

Die Durchführung von Euthanasieprogrammen bei Erwachsenen begann 1939 unter dem Namen „Aktion T4“. Um 70.000 Krankenhausbetten für Kriegsverletzte zu sichern, mussten alle staatlichen Einrichtungen Kranke melden, die entweder mehr als fünf Jahre krank oder arbeitsunfähig waren. Diese Patienten wurden zu einem großen Teil vergast oder verbrannt. Dabei wurden falsche Todesbescheinigungen ausgestellt und den Angehörigen die „Behandlung“ und Bestattung in Rechnung gestellt. Als 1941 genug Krankenbetten da waren, wurde die Aktion, die inzwischen öffentlich bekannt geworden war, eingestellt. Zumal die entsprechenden Vernichtungseinrichtungen inzwischen zur Tötung von Juden, Polen, Russen und dem Regime nicht genehmen Deutschen gebraucht wurden.

In den Konzentrationslagern der Nazis starben Millionen von Menschen. Ärzte waren von Anfang an daran beteiligt, teilweise freiwillig. Sie waren an dem gesamten Euthanasieprozess beteiligt von Meldung über Selektion, Autorisierung bis hin zur Ausführung. Wie lässt sich dies erklären? Widerspricht so etwas nicht dem ärztlichen Berufsethos? Den Anfang bildete eine subtile, raffinierte Veränderung der Haltung der Ärzte: Es gab auf einmal Leben, das es nicht wert war, gelebt zu werden („lebensunwertes Leben“). Damit war ein Damm gebrochen. Zunächst ging es dabei nur um unheilbar kranke Patienten. Doch das weitete sich bald aus auf

  • gesellschaftlich Unnütze,
  • deologisch Unerwünschte,
  • ethnisch Unerwünschte,
  • letztlich alle Nicht-Arier.

Diese historischen Erfahrungen sollten uns sensibilisieren für Entwicklungen in unserer Zeit. Wird das menschliche Leben in unterschiedlich „lebenswerte“ Kategorien eingeteilt? Bleibt das menschliche Leben grundsätzlich außerhalb der menschlichen Verfügungsgewalt oder hat der Mensch das Recht, hier einzugreifen?  Hat nicht schon der Prophet Amos im Auftrag Gottes bei den Menschen neben vielen anderen Sünden auch dies kritisiert: die mangelnde Ehrfurcht vor dem Leben? Und zwar an seinem Anfang (Ammon: „Weil sie die Schwangeren von Gilead aufgeschlitzt haben“ 1,13), und an seinem Ende (Moab: „Weil es die Gebeine des Königs von Edom zu Kalk verbrannt hat“ 2,1).

Es ist sicher gut, sich noch einmal zu fragen, wie ist man im Dritten Reich vorgegangen, um sein Ziel zu erreichen? Einige Punkte fallen hier auf:

Erstens: Propaganda

Die öffentliche Meinung wird durch Propaganda beeinflusst. Filme wie „Ich klage an“ (1941 -Originaltitel „J‘accuse“) schildern Euthanasie als eine gnädige Erlösung. Es geht in dem Film um eine Frau, die an Multipler Sklerose (MS) erkrankt ist. Auf ihren Wunsch hin wird sie von ihrem Ehemann, einem Mediziner, getötet. Ein Freund spielt währenddessen im Nebenzimmer leise Klavier.

Zweitens: Euphemismus[2]

Die Benutzung von Euphemismen verharmlost die Tatsachen und lässt die Aktionen annehmbar erscheinen.

  • Der „Reichsauschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb-und anlagebedingten schweren Leiden“ ist für die Organisation zur Tötung behinderter Kinder zuständig.
  • Die „Gemeinnützige Krankentransport GmbH“ ist für den Transport erwachsener Kranker in die Tötungseinrichtungen zuständig.
  • Die „Zentralverrechnungsstelle Heil-und Pflegeanstalten“ stellt den Angehörigen die Kosten für die Euthanasie in Rechnung.

Drittens: Kosten-Nutzen Analyse

In Mathematikaufgaben verglichen Schüler die Mietkosten für eine kleine Wohnung mit den Kosten, die durch die Pflege „Verkrüppelter, Krimineller und Verrückter“ entstehen. Nach offiziellen Berechnungen hat die „Aktion T4“ durch die Tötung von 70.000 Patienten dem Staat 245.955 Reichsmark pro Tag eingespart.  Schon in dem zu Beginn erwähnten Buch finden sich schlimme Formulierungen, die in diese Richtung gehen: „Die Anstalten, die der Idiotenpflege dienen, werden anderen Zwecken entzogen; soweit es sich um Privatanstalten handelt, muss die Verzinsung berechnet werden; ein Pflegepersonal von vielen tausend Köpfen wird für diese gänzlich unfruchtbare Aufgabe festgelegt und fördernder Arbeit entzogen; es ist eine peinliche Vorstellung, dass ganze Generationen von Pflegern neben diesen leeren Menschenhülsen dahinaltern, von denen nicht wenige 70 Jahre und älter werden.“

Der Wert bestimmter Menschen wurde herabgesetzt, der von Tieren hingegen erhöht. Tierschutzgesetze waren besonders streng (Nein, wir reden nicht von Deutschland 2017. Doch die Ähnlichkeit ist auffallend.).

 

[1] Der Begriff kommt aus dem Griechischen und bedeutet „guter Tod“. Der Begriff wird heute meist verwendet, um die systematischen Morde an Menschen mit körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen durch die Nationalsozialisten zu kennzeichnen.
[2] Euphemismus (latinisierte Form von griechisch euphēmía ‚Worte von guter Vorbedeutung‘) ist ein sprachlicher Ausdruck, der eine Person oder einen Sachverhalt beschönigend, mildernd oder in verschleiernder Absicht benennt.