Ich würde auch lieber nicht durch Drangsal gehen

Sehr geehrte Damen und Herren,
auf Seite 19 der Zeitschrift 5/94 steht unter der Spalte "Von dem kommenden Zorn" im mittleren Abschnitt:
"Vor dieser Ausführung des Zornes Gottes wird der Herr Jesus als Retter (Heiland) für die Seinen erscheinen (Phil 3,20), um sie zu sich zu nehmen."
Über diese Aussage bin ich irritiert. In Philipper 3,20 steht: "Unser Wandel aber ist im Himmel, von dannen wir auch warten des Heilandes Jesu Christi, des Herrn." Was hat das nun damit zu tun, dass Sie aussagen, "vor dieser Ausführung des Zornes Gottes wird ..."?
Im AT und NT ist viel vom Tag des Herrn / kommenden Zorn / Trübsal / große Trübsal geschrieben. Aus Ihrem Abschnitt muss ich schließen, dass die Entrückung vor der Trübsal erwartet wird. Dem kann ich nicht folgen, obwohl das allgemein geglaubt wird. In 1. Kor 15,51-52 steht eindeutig, dass wir verwandelt werden zur Zeit der letzten Posaune. Wenn Sie in Offenbarung 9,13ff. nachlesen, dass die letzte Posaune die Zornschalen bringt und nun fast Ende der Trübsal ist, dann muss ich schließen, auch wenn das die Christen nicht wahrhaben wollen, dass sie durch die Trübsal gehen werden.
Es wäre zu schön, wenn die an den Herrn Gläubigen nicht durch die Trübsal gehen müssten (oder zumindest durch einen Teil der Trübsal), aber ich finde keinen Anhalt dafür in der Bibel. Wenn Sie die Endzeitrede des Herrn in Matthäus lesen, steht in 24,29 vom Gericht des 6. Siegels, und dann kommt der Herr, und 24,36 sagt aus, dass nur der Vater Tag und Stunde weiß. Dass die Schilderung der Gemeinde mit Laodizäa endet, sagt doch nicht aus, dass die Trübsal nun beginnt, bzw. wann Laodizäa endet. Laodizäa ist Endzeitgemeinde, und die daraus errettbar sind, werden geläutert in der Trübsal.
Ich würde gerne Ihre Aussage nach der Bibel hören. Streiten tue ich nicht und kritisieren auch nicht, aber die Sache beschäftigt mich, und ich habe dazu schon viel gelesen; die Meinungen gehen weit auseinander, und ich würde auch lieber nicht durch die Trübsal gehen. Aber der Herr ist autonom, unabhängig davon, was die Menschen gerne wollen.
Mit freundlichen Grüßen
T. Schuberth, Lichtenfels

Liebe Schwester Schuberth,
vielen Dank für Ihren Brief vom 07. September dieses Jahres. Wir freuen uns, dass Sie uns geschrieben haben. Auch mir liegt es fern, über das Wort Gottes zu streiten oder andere Ausleger zu kritisieren. Dennoch sind wir für jeden Gedankenaustausch über das Wort Gottes — ob nun in mündlicher oder in schriftlicher Form — dankbar, weil er zum Forschen in Gottes Wort anregt. Und darauf ruht immer Segen, wenn es in Aufrichtigkeit geschieht.
Die Frage nach dem Zeitpunkt der Entrückung der Gläubigen hat schon viele Gemüter bewegt. Übrigens soll in den weiteren Folgen der Auslegung zu den Briefen an die Thessalonicher weiter auf diese Frage eingegangen werden, insbesondere bei der Behandlung des 2. Kapitels des zweiten Briefes.
Ja, ich glaube, dass die Entrückung vor Beginn der großen Trübsal geschehen wird. Dazu möchte ich zuerst einmal eine Reihe von Argumenten mit kurzen Erläuterungen aufführen und danach auf die von Ihnen angeführten Bibelstellen eingehen.
1. Die Entrückung der Gläubigen ist eine Errettung von dem Zorn (1. Thes 1,10). Der Zorn könnte hier zwar als eine allgemeine Andeutung von Gerichten Gottes verstanden werden, doch ich glaube, dass dieser Begriff hier die bestimmte Zeitspanne bezeichnet, nämlich die Zeit der Drangsal. Aus Römer 1,18 erfahren wir, dass sich Gottes Zorn vom Himmel (also auf die Erde) ergießen wird. In Offenbarung 6,16.17 ist ebenfalls von dem Zorn des Lammes, ein symbolischer Name unseres Herrn Jesus Christus, und dem großen Tag Seines Zornes die Rede. Nach meinem Verständnis ist Offenbarung 6 eine Beschreibung der vorlaufenden Gerichte, auf die dann erst die eigentliche Zeit der Drangsal folgt (nämlich in Offenbarung 7-19).
2. In dem Sendschreiben an Philadelphia erhalten die Gläubigen Verheißung, dass sie vor der Stunde der Versuchung bewahrt werden, die über den ganzen Erdkreis kommt wird (Offb 3,10). Das ist sicher eine der wichtigsten Stellen in der Heiligen Schrift für die Vor-Entrückung. Ich gebe zu, dass manche Ausleger das Gegenteil aus dieser Stelle lesen. Sie begründen ihre Auslegung hauptsächlich mit einem anderen Verständnis der hier gebrauchten Präposition. Die griechische Präposition für "vor" ist nämlich "ek", was normalerweise "aus" heißt. Also müssten wir aus der großen Drangsal errettet werden, in die wir vorher hineingekommen wären. Doch in 1. Thessalonicher 1,10 ist die griechische Präposition für "von" ebenfalls "ek". Und in Johannes 17,15 findet sich dieselbe Präposition: "Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt wegnehmest, sondern dass du sie bewahrst vor [ek] dem Bösen." Wer wollte nun behaupten, dass die, für die der Herr Jesus dort betet, vorher in das Böse hineinkommen müssen? Die einfache Erklärung ist: "ek bedeutet an diesen Stellen nicht "aus", sondern "vor".
3. Sind wir uns darin einig, dass die Kapitel 2 und 3 der Offenbarung eine kleine "Kirchengeschichte" sind? Wenn das der Fall ist, woran ich nicht zweifle, ist die Zeit Laodizäas die letztem Phase der Christenheit. Sofort im Anschluss daran erfolgt die Aufforderung an Johannes, den Schreiber der Offenbarung: "Komm hier herauf" (Offb 4,1). Darin möchte ich einen Hinweis auf die Entrückung sehen. Die Gerichte der großen Drangsalszeit folgen dann in den Kapiteln 7-19. Übrigens sehen wir in Offenbarung 4 und 5 vierundzwanzig Älteste im Himmel, die ein Bild der auferstandenen entrückten Gläubigen sind.
4. Nach Daniel 9,27, einem Schlüsselvers für das Verständnis der Zeit der großen Drangsal, wird das dort beschriebene Bündnis eine Woche dauern, das sind sieben Jahre. Diese sieben Jahre teilen sich in zwei Teile von je 3.5 Jahren auf. Alle Zeitangaben in der Offenbarung (Zeiten, eine Zeit und eine halbe Zeit; 42 Monate und 1260 Tage) beziehen sich auf die zweite Hälfte. Doch bereits in der ersten Hälfte der letzten Jahrwoche (also den ersten 3.5 Jahren) gibt es Märtyrer aus Israel, die wegen ihres Glaubens umkommen werden (Offb 6,9-11). Diese Juden sind aber keine Christen geworden. Wäre die Gemeinde während dieser Zeit noch auf der Erde, würden dann diese Juden nicht dazugehören müssen?
Für mich ist es schwer vorstellbar, dass während der Zeit der Gnade (oder der Kirche) Menschen in Israel gläubig sein können, ohne zur Kirche zu gehören. Was für Gruppen von Überwindern finden wir dann in Offenbarung 7, wenn die Gemeinde noch auf der Erde wäre?
5. Der Apostel Paulus warnt die Gläubigen in seinen Briefen kein einziges Mal vor einer ausdrücklichen Zeit der "Drangsal", die sie erleben müssten. Würde er uns nicht auf solch eine Zeit besonders vorbereitet haben?
6. Das Offenbarwerden des Antichristen erfolgt erst nach der Wegnahme dessen, "was zurückhält". Nach meinem Verständnis ist damit die Anwesenheit der Kirche und des Heiligen Geistes hier auf der Erde gemeint (2. Thes 2).
7.Es ist ein deutlicher Unterschied zwischen dem Kommen Christi für die Seinen (d.h. zur Entrückung der Seinen - 1. Thes 4,16-18) und mit den Seinen (1. Thes 3,13; Sach 14,5) zu erkennen.
Einer der Unterschiede besteht darin, dass Christus bei der Entrückung / Heimholung der Gläubigen nicht sichtbar für die Welt kommen wird - wir werden Ihm in Wolken entgegengerückt werden -, bei Seiner öffentlichen Erscheinung aber wohl für alle Menschen sichtbar sein wird.
8. Die Zeit der Drangsal (oder: Trübsal) ist eine Drangsal für Jakob [= Israel] (Jer 30,7) und nicht für die Kirche. Allerdings wird der Untergang der falschen Braut, der Namenschristenheit, in Offenbarung 17 und 18 ausführlich beschrieben. Das sind alle die "Christen", die nie in ihrem Herzen geglaubt haben und deshalb auch die Entrückung nicht miterlebt haben werden.
9. Ein Vorbild aus dem Alten Testament: Henoch wurde entrückt, bevor die Flutkatastrophe (Bild der großen Drangsal) über die Erde hereinbrach. Henoch ist (neben Elia) der einzige Mensch, der, ohne zu sterben, zu Gott entrückt wurde, indem Gott ihn von der Erde wegnahm. So werden viele lebende Gläubige durch die Entrückung zum Herrn gehen, ohne den Tod zu sehen. Noah hingegen ist zusammen mit seiner Familie ein Bild der gläubigen Juden, die nach der Entrückung zur Bekehrung, zum lebendigen Glauben an Gott gelangen werden und die dann als ein kleiner Überrest lebend in das Friedensreich eingehen werden. Sie werden durch die Gerichte hindurch bewahrt.
Für diese Auflistung der Punkte beanspruche ich keine Vollständigkeit. Möglicherweise lassen sich weitere Punkte hinzufügen.
Nun zu den Stellen, die Sie in Ihrem Brief angeführt haben:
1. Korinther 15,51.52: "Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden zwar nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden, in einem Nu, in einem Augenblick, bei der letzten Posaune; denn posaunen wird es, und die Toten werden auferweckt werden unverweslich, und wir werden verwandelt werden." Es fällt mir schwer, einen Zusammenhang zwischen der "letzten Posaune" hier und den Posaunengerichten in Offenbarung 8-11 zu sehen. Der Apostel Paulus hat seinen ersten Brief an die Korinther im Jahr 55/56 n.Chr. geschrieben; die Offenbarung hingegen ist erst in den neunziger Jahren des ersten Jahrhunderts entstanden. Die Posaunengerichte waren daher den Gläubigen in Korinth noch unbekannt. Wahrscheinlicher ist, dass der Apostel ein Bild aus dem Bereich des römischen Militärs benutzt: Die erste Posaune ertönte, wenn die Soldaten sich zu den Zelten begaben, die zweite, wenn sie sich in Schlachtreihen aufstellten, und die dritte, wenn sie endgültig aufbrachen (vgl. A New and Concise Bible Dictonary, G. Morris, London, S. 783). Dieses Bild war den Gläubigen sicherlich geläufig. Ich zweifle nicht daran, dass diese letzte Posaune die Posaune Gottes in 1. Thessalonicher 4,16 ist.
Matthäus 24,29: "Alsbald aber nach der Drangsal jener Tage wird die Sonne verfinstert werden und der Mond seinen Schein nicht geben, und die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte der Himmel werden erschüttert werden." Wir sind uns einig darin, dass dies der Zeitpunkt der öffentlichen Erscheinung Christi auf der Erde sein wird, wo Ihn jedes Auge sehen wird (Offb 1,7).
Warum müssen die Ereignisse an den Gestirnen, die in Matthäus 24,29 und in Offenbarung 6,12.13 beschrieben werden, zum gleichen Zeitpunkt stattfinden? Kann beides nicht sowohl kurz vor der Drangsal, wovon in Offenbarung 6,12.13 die Rede ist, als auch nach der großen Drangsal stattfinden? Dabei gehe ich jetzt nicht auf die Frage ein, ob wir diese Beschreibung der Veränderung der Gestirne buchstäblich oder symbolisch zu verstehen haben.
Matthäus 24,36: "Von jenem Tage aber und jener Stunde weiß niemand, auch nicht die Engel der Himmel, sondern mein Vater allein." Das trifft sowohl auf den Zeitpunkt der Entrückung zu als auch auf den Zeitpunkt der öffentlichen Erscheinung Christi. Ich würde mich hüten, jemals Jahreszahlen zu nennen oder diese Zeitpunkte ausrechnen zu wollen. Das braucht uns aber nicht zu hindern, die Schrift auf die Reihenfolge der endzeitlichen Ereignisse hin zu untersuchen: So geht ja z.B. aus Matthäus 24,29 hervor, dass die öffentliche Erscheinung Christi nach der Drangsal stattfinden wird.
Sie haben recht, wenn Sie schreiben, dass die Tatsache, dass die Schilderung der Gemeinde mit Laodizäa endet, nichts darüber aussagt, dass danach die Trübsal beginnt. Doch wenn wir die Offenbarung als eine durchgehende Chronologie (mit Einschüben) verstehen, dann ist das für mich doch ein weiterer Hinweis auf die Entrückung der Gläubigen vor der Drangsal, denn in Kapitel 4 und 5 werden die Gläubigen im Himmel gesehen (im Bild der 24 Ältesten), und das, bevor noch ein einziges Gericht diese Erde getroffen hat.
Von Herzen gebe ich zu, dass es für mich bei der Ausdeutung der biblischen Prophetie noch viele offene Fragen gibt. Außerdem habe ich mich bemüht, die einzelnen Punkte kurz und bündig zu behandeln. Dabei habe ich darauf verzichtet, manche Aussagen weiter zu untermauern. Ich würde mich freuen, wenn wir uns in einem offenen Dialog noch eingehender mit diesem Thema beschäftigen könnten. Vielleicht können Sie sich aber auch schon diesen kurzen Ausführungen anschließen.
Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Bibelstudium und verbleibe mit herzlichen geschwisterlichen Grüßen
Ihr Werner Mücher