Selbstverwirklichung - ein Rezept für Christen?

Zum Begriff

"Selbstverwirklichung" ist ein Begriff der psychologischen Fachsprache. Er gibt in kurzer Form ein Rezept für seelische Gesundheit und Normalität wieder, das die vor etwa 40 Jahren aufgekommene humanistische Psychologie anpreist. Man versteht unter Selbstverwirklichung "die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit durch das Realisieren von Möglichkeiten, die in einem selbst angelegt sind" (Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache).
Weshalb wir uns hier überhaupt damit beschäftigen wollen, machen weitere Begriffe deutlich, die diese psychologische Schule häufig gebraucht, wie Selbstwertgefühl, Selbstannahme, Selbstliebe, Selbstvertrauen, Selbstbehauptung und sogar Selbstvergebung. Die dahinterstehenden Denk- und Verhaltensweisen stehen hoch im Kurs. Sie werden nicht nur Managern und Stars antrainiert, sondern im Rahmen der Aus- und Weiterbildung kommen auch viele Jugendliche notgedrungen damit in Berührung. Aber nicht alle Christen durchschauen, dass dieses Lebensrezept den Sündenfall bestreitet und im Grunde zur Vergötterung des Ichs ermutigen möchte.

Schon der Ansatz ist falsch

Wir wollen uns noch einmal die Begriffserklärung für Selbstverwirklichung ansehen: "Entfaltung der eigenen Persönlichkeit durch das Realisieren von Möglichkeiten, die in einem selbst angelegt sind". Etwas vereinfacht heißt das ungefähr: Du bist ein ganz prima Kerl; glaube das doch endlich, und befasse dich intensiv mit dir selbst. An deinen Wünschen und Bedürfnissen gibt es nichts auszusetzen. Entdecke die in dir schlummernden Möglichkeiten, und bringe sie soweit wie irgend möglich nach außen zur Geltung. Lass dich nur durch nichts und niemand einengen, denn das würde dich psychisch krank machen. Darin sind mindestens zwei Voraussetzungen enthalten, die nach der Bibel nicht zutreffen, nämlich erstens, dass der Mensch frei ist, nach seinem Gutdünken zu handeln, und zweitens, dass er von Natur aus gut ist. Aus evolutionistischer Sicht dagegen, die auch der humanistischen Psychologie zugrunde liegt, können an dieser Stelle gar keine Fragen aufkommen. Wenn der Mensch nur das vorläufig höchste Produkt eines zufälligen Entwicklungsprozesses ist und nichts weiter als besonders hochorganisierte Materie darstellt, dann gibt es eben niemand über ihm, und "gut" oder "böse" sind reine Ansichtssache. Der Antichrist, der Mensch der Sünde, wird einmal diese Vorstellungen bis zur letzten Konsequenz in die Praxis umsetzen, indem er "sich selbst erhöht über alles, was Gott heißt oder ein Gegenstand der Verehrung ist, so dass er sich in den Tempel Gottes setzt und sich selbst darstellt, dass er Gott sei" (2. Thes 2,4). - Was ist nun eigentlich falsch an den Voraussetzungen des Selbstverwirklichungskonzepts oder anderer Methoden der Psychotherapie?

Am Kernproblem vorbei

Weil der Mensch nach Aussage der Bibel ein Geschöpf Gottes ist und auf Ihn hin angelegt, durch die Sünde jedoch von Ihm getrennt ist, kann nichts seine seelischen Probleme wirklich und dauerhaft lösen als nur die Umkehr zu Gott. Alle Religionen und jede Art von Religionsersatz (auch die Psychotherapie erfüllt häufig diese Funktion), die dieses Kernproblem leugnen oder ausklammern, haben zwangsläufig nur Scheinlösungen zu bieten. Ihre Vertreter gleichen in mancher Hinsicht den selbsternannten Propheten und gewissenlosen Priestern zur Zeit Jeremias, die die Schuld des Volkes und die angekündigte Zerstörung Jerusalems einfach wegdiskutierten. Von ihnen lesen wir: "Das Wort des HERRN ist ihnen zum Hohn geworden, ... sie heilen die Wunde der Tochter meines Volkes leichthin und sprechen: Friede, Friede! und da ist doch kein Friede" (Jer 6,10.14). Auch noch so häufige Beteuerungen seines Psychotherapeuten, dass nur Gutes in ihm stecke und dass er lediglich lernen müsse, sich selbst so zu sehen, werden das Gewissen des Klienten nicht austricksen können. Immer wieder platzt die bunte Seifenblase. Die einfache Erklärung dafür findet sich schon in einem Gebet des Augustinus (354 — 430 n.Chr.): "Geschaffen hast Du uns zu Dir, und ruhelos ist unser Herz, bis dass es seine Ruhe hat in Dir."

Diese Gesinnung sei in euch

Wenn wir unser "Selbst" verwirklichen, geschieht das ja nicht auf einer menschenleeren Insel, sondern in der Ehe, in der Familie, im Kollegenkreis oder auch in der Versammlung (Gemeinde); es wird also immer irgendwie auf Kosten anderer gehen. Unter den Gläubigen in Philippi waren auf diese Art Schwierigkeiten entstanden. Der Apostel bat sie, nichts aus Streitsucht (Selbstbehauptung) oder eitlem Ruhm (Selbsterhebung) zu tun, sondern in der Demut einer den anderen höher zu achten als sich selbst. Außerdem sollte jeder nicht nur auf das Seine (Selbstsucht) sehen, sondern auch auf das der anderen (vgl. Phil 2,34). Anstelle einer langen Argumentation, die wir daran anschließend vielleicht erwartet hätten, stellt er der in Philippi praktizierten Selbstverwirklichung - und damit auch jeder heutigen - einfach das Beispiel des Sohnes Gottes in Seinem Erdenleben gegenüber. Wir wollen es tief auf uns wirken lassen.

Der sich selbst zu nichts machte

Unser Herr "verwirklichte nicht sich selbst", sondern war gehorsam, gehorsam bis zum Tod am Kreuz. Er hatte ja gesagt: "Siehe, ich komme .... um deinen Willen, o Gott, zu tun" (Heb 10,7). Gleich zu Beginn Seines Dienstes versuchte Satan, Ihn dennoch zur Selbstverwirklichung zu verführen. Bei Eva war ihm das leicht gelungen, und Adam war ihr darin gefolgt. Aber die gleichbleibende Antwort des Herrn lautete: "Es steht geschrieben"; das war Gehorsam gegen den offenbarten Willen Gottes. Auch danach wurde Er immer aufs neue zu eigenmächtigem Handeln aufgefordert. — Seine Mutter sagte auf der Hochzeit in Kana zu Ihm: "Sie haben keinen Wein." Er musste ihr erwidern: "Was habe ich mit dir zu schaffen, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen" (Joh 2,3.4). — Seine Brüder forderten Ihn anlässlich eines Laubhüttenfestes auf: "Wenn du diese Dinge tust, so zeige dich der Welt." Die Antwort war: "Meine Zeit ist noch nicht da" (Joh 7,4.6). - Als Er den Jüngern Seine Leiden ankündigte, erhielt Er von Petrus einen gutgemeinten Tadel. Die Antwort des Herrn ist ernst: "Geh hinter mich, Satan! Du bist mir ein Ärgernis, denn du sinnest nicht auf das, was Gottes, sondern auf das, was der Menschen ist" (Mt 16,23).
In Gethsemane hören wir: "Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst" (Mt 26,39). - Am Kreuz schließlich konnte weder die Lästerung des Räubers ("Bist du nicht der Christus? Rette dich selbst und uns!" — Lk 23,39) noch die spöttische Herausforderung der religiösen Führer ("Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten. Er ist Israels König; so steige er jetzt vom Kreuze herab, und wir wollen an ihn glauben" — Mt 27,42) den leidenden Sohn Gottes zu eigenem Handeln verleiten.
Petrus stellt diesen Herrn später als Beispiel vor die Blicke der ungerecht leidenden Sklaven: "Denn auch Christus hat für euch gelitten, euch ein Beispiel hinterlassend, auf dass ihr seinen Fußstapfen nachfolget; welcher keine Sünde tat, noch wurde Trug in seinem Munde erfunden, der, gescholten, nicht wiederschalt, leidend, nicht drohte, sondern sich dem übergab,
der recht richtet" (1. Pet 2,21-23). Das spricht natürlich jeden Gläubigen an.

Er handelte nie eigenmächtig

Im Leben und in den Motiven unseres Herrn hatte Selbstverwirklichung keinen Platz; Er erklärte im Gegenteil: "Der Sohn kann nichts von sich selbst tun, außer was er den Vater tun sieht" (Joh 5,19). "Denn ich bin vom Himmel herniedergekommen, nicht auf dass ich meinen Willen tue, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat" (Joh 6,38). Er erwartet die gleiche Einstellung und Haltung ausdrücklich auch bei allen Seinen Jüngern: "Wer irgend unter euch groß werden will, soll euer Diener sein; und wer irgend von euch der Erste sein will, soll aller Knecht sein. Denn auch der Sohn des Menschen ist nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele" (Mk 10,43-45). Aller Diener zu sein, ist alles andere als Selbstverwirklichung. Sind wir noch bereit, dieser Aufforderung unseres Herrn nachzukommen?

Nicht mehr lebe ich

Der Apostel Paulus wünschte sich also bei den Philippern die gleiche Einstellung, die den Sohn Gottes in Seinem Erdenleben kennzeichnete. War dieser Wunsch nicht zu hoch gegriffen? Nein, Paulus hatte es selbst vorgelebt; er konnte sie auffordern, zusammen seine Nachahmer zu sein. Wie er das meinte, lesen wir an anderer Stelle genauer. An die ebenfalls zerstrittenen Korinther, weil sie sich vom Ich regieren ließen ("ihr seid noch fleischlich"), hatte er geschrieben: "Seid meine Nachahmer, gleichwie auch ich Christi" (1. Kor 3,3; 11,1). Im Galaterbrief finden wir näher beschrieben, auf welchem Weg Paulus ein Nachahmer Christi werden konnte: "Ich bin mit Christo gekreuzigt, und nicht
mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt lebe im Fleische, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat" (Gal 2,20). Was wir hier hören, ist das direkte Gegenteil von Selbstverwirklichung. Mit dem "Realisieren von Möglichkeiten, die in einem selbst angelegt sind" war Paulus zu Ende gekommen; er hatte begriffen, dass sein durch die Sünde verdorbenes Ich nach Gottes Urteil ans Kreuz gehörte. Er hatte sich unter dieses Urteil gestellt, indem er sich bekehrte und damit anerkannte, dass Christus für ihn hatte sterben müssen. Aber eben diese im Glauben vollzogene Verurteilung seines Ichs (‚ich bin mit Christus gekreuzigt") ließ ihn augenblicklich alle weiteren Bemühungen einstellen, seine Persönlichkeit zu entfalten ("nicht mehr lebe ich"). Somit waren bei Paulus die Voraussetzungen gegeben, dass sich Christus ungehindert in ihm entfalten konnte, dass Seine Charakterzüge immer deutlicher an Paulus erkennbar wurden. Aber alles, was dieser Entfaltung entgegenstand - ob es Satan, der alte Mensch oder die Welt war -, konnte nicht aus eigener Kraft, sondern nur durch den Glauben überwunden werden ("was ich aber jetzt lebe im Fleische, lebe ich durch Glauben"). War solch ein Leben der Selbstaufgabe eine harte, freudlose Pflicht für Paulus? Durchaus nicht! Gerade dieses Leben garantierte ihm den uneingeschränkten Genuss der Liebe des Sohnes Gottes. Ob wohl ein Mann wie Paulus, der von Ihm sagen konnte: "Der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat", unter mangelndem Selbstwertgefühl gelitten hat?

Die "Selbstverwirklichung" des Christen

Diese Überschrift scheint im Widerspruch zu allem bisher Gesagten zu stehen. Aber Selbstverwirklichung steht darin in Anführungszeichen. Eigentlich ist das genaue Gegenteil davon gemeint. Selbstverwirklichung mit positivem Vorzeichen — das, was wir soeben ausführlich bei Paulus betrachtet haben. Gott erwartet nämlich von allen Seinen Kindern, auch von Dir und mir, dass sie anstelle ihres "Selbst" Jesus Christus in ihrem Leben verwirklichen und Seine Charakterzüge immer klarer erkennen lassen.
Johannes der Täufer brachte diesen Vorgang (wenn auch in einem anderen Zusammenhang) auf die kurze Formel: "Er muss wachsen, ich aber abnehmen" (Joh 3,30). Vorher hatte er schon bezeugt, dass er nicht würdig wäre, Ihm den Riemen Seiner Sandale zu lösen. Petrus hatte einst ausgerufen: "Geh von mir hinaus, denn ich bin ein sündiger Mensch, Herr!" (Lk 5,8). Wenige Jahre später konnten seine Gegner deutlich erkennen, dass er mit Jesu gewesen war. Paulus hatte vor seiner Bekehrung mehr durch Selbstverwirklichung erreicht als die meisten seiner Zeitgenossen, wie wir in Philipper 3 nachlesen können. Aber als er den Herrn kennenlernte, konnte er das nur noch für Dreck ansehen. Wenn er uns dann in Vers 17 zur Nachahmung ermutigt, sollten wir alle sehr gründlich darüber nachdenken.
Eigentlich ist nur das ein erfülltes Leben zu nennen, was wir im vorigen Abschnitt bei Paulus sehen durften. Außerdem erwartet unser Herr, der Sohn Gottes, der uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat, gerade diese "Selbstverwirklichung" von uns. Die der humanistischen Psychologie ist ein Irrweg; sie geht von einem unbiblischen Menschenbild aus. Wir brauchen deshalb von diesem Konzept keinerlei Hilfe in seelischen Nöten zu erwarten, auch wenn es leider manche Seelsorger für anwendbar halten. Ebenso lohnt es sich auch nicht, sein Leben danach zu konzipieren. Ich denke, wir müssen abschließend sagen:

SELBSTVERWIRKLICHUNG - kein Rezept für Christen!
Hans-Joachim Kuhley