Jesus Christus

Christus - von Gott verlassen

 

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Mt 27,46). Diese Frage stellte der Sohn Gottes am Ende der drei Stunden der Finsternis am Kreuz von Golgatha, mit lauter Stimme aufschreiend. Dieser Ausruf ist nicht nur eine Frage, die Er Gott stellte. Der Herr Jesus drückt darin auch seine tiefe Not aus, die Er durch das Verlassenwerden von Gott empfand.

Wenn wir uns mit der Tatsache befas­sen, dass Christus am Kreuz von Gott verlassen war, müssen wir uns zuerst eins bewusst machen: Die Szene auf Golgatha erfordert größte Ehrfurcht von uns. Wir können nicht über die Leiden des Herrn Jesus sprechen wie über alltägliche Dinge. Es gehört sich eine Haltung, wie Gott sie von Mose forderte: „Ziehe deine Schuhe aus von deinen Füßen, denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliges Land" (2. Mo 3,5).

Der Weg zum Kreuz

Am Abend vor der Kreuzigung hatte der Herr Jesus in Gethsemane auf dem Boden im ringenden Gebet zu Gott, seinem Vater, gelegen. Dort hatte vor Ihm in aller Schrecklichkeit das Zur­Sünde-werden, das Verlassenwerden von Gott und der bevorstehende Tod gestanden. Das alles hatte Ihn „bestürzt und beängstigt" und „betrübt bis zum Tod" werden lassen (Mk 14,33.34). Anschließend war Judas Iskariot mit Soldaten gekommen und Christus war gefangen genommen worden. Dann wurde Er mehrfach verhört, gegeißelt und schließlich gekreuzigt.

Bisher hatten nur die Menschen ge­handelt. Bis hierhin war es „ihre Stun­de und die Gewalt der Finsternis" (Lk 22,53) gewesen. Doch dann lesen wir in Matthäus 27,45: „Aber von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde". Es klingt wie ein Gegensatz —bis dahin stand das Handeln der Men­schen im Vordergrund, jetzt kam etwas völlig anderes.

Die Stunde Gottes

Denn jetzt kam die Stunde Gottes. Jetzt rechnete der heilige Gott mit der Sünde und mit unseren Sünden ab — aber nicht an uns, sondern an Ihm, seinem einzigartigen, vollkommenen Sohn! An Ihm, dem Reinen, der Sünde nicht kannte (2. Kor 5,21), in dem keine Sünde war (1. Joh 3,5) und der kei­ne Sünde tat (1. Pet 2,22). Ob wir jung sind oder alt und schon lange auf dem Glaubensweg — das lässt uns in großer Bewunderung und mit Anbetung nach Golgatha blicken.

Die Evangelien berichten nichts dar­über, was in diesen drei Stunden wirklich geschah. Wir wissen, dass das ganze Land unter einer tiefen, überna­türlichen Finsternis lag1. Andere Stel­len der Bibel sagen uns, dass Christus in dieser Zeit — und nur in dieser Zeit! — mit unseren Sünden beladen war (Heb 9,28; 1. Pet 2,24) und Gott Ihn sogar zur Sünde gemacht hat (2. Kor 5,21). Erst am Ende dieser furchtbaren Leiden hören wir den Heiland diesen Ausruf tun, mit dem wir unseren Arti­kel begonnen haben. Diese Frage soll uns noch etwas beschäftigen.

Unergründliche Frage

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Eine unergründli­che Frage, die Christus Wort für Wort aus dem 22. Psalm zitiert. Eine Frage, die ausschließlich auf Christus zutrifft, da David nie von Gott verlassen war. Eine Frage, vor der wir stehenbleiben müssen, die einzigartig dasteht in der Ewigkeit. Eine Frage, über deren ein­zelne Worte es sich lohnt, nachzuden­ken.

 

„Mein Gott, mein Gott": Er sagt „mein" Gott. Wer mehr als Er konnte von „seinem" Gott sprechen? Er hatte Ihn von Kindheit an nur geehrt und verherrlicht, war seinem Gott immer vollkommen gehorsam gewesen! „Auf dich bin ich geworfen von Mutter­schoß an, von meiner Mutter Leib an bist du mein Gott" (Ps 22,11).

Christus spricht Ihn als seinen „Gott" an. Während seines Lebens und Dienstes auf dieser Erde, im ringenden Kampf in Gethsemane und auch am Kreuz in den ersten drei Stunden (von der drit­ten bis zur sechsten Stunde) und nach den drei Stunden der Finsternis hatte Er Gott immer nur als seinen „Vater" angesprochen (vgl. Lk 2,49; Joh 16,32; Mk 14,36; Lk 23,34.46). Dies zeigt, dass der Herr Jesus hier als unser Mitt­ler vor Gott tritt, mit unseren Sünden beladen, um sie zu sühnen. Jetzt hat Er es mit dem heiligen Gott zu tun, daher nennt Er Ihn „Gott" und nicht „Vater". Hier steht jetzt nicht seine Beziehung zu seinem Vater im Blickpunkt — auch wenn sie auch jetzt weiter bestand —, sondern Gott in seinem heiligen We­sen..

Durch die Wiederholung des „Mein Gott" bringt der Heiland außerdem etwas von der Tiefe und Intensität zum Ausdruck, mit der Er Gott anspricht. Ja, Er rief in größter Not!

„warum...?": Das „warum" ist das zen­trale Wort seiner Frage. Ja, warum? Zu­nächst müssen wir sagen, dass Christus als der Allwissende die Antwort kannte. Aber drückt Er hier nicht — ähnlich wie bei seinem Gebet in Gethsemane — als vollkommener Mensch etwas von seinen Empfindungen aus, ein uner­gründlich tiefes, „menschliches" Fra­gen?

Doch daneben kann auch jeder Gläu­bige auf dieses „Warum" eine Antwort geben. Der Herr Jesus wurde unsert­wegen von Gott verlassen, damit wir niemals von Gott verlassen sein und diesen furchtbaren Zustand des Ver­lassenseins von Gott erfahren müssen! Und doch — auch wenn wir die Antwort kennen, kann niemand ermessen, was es wirklich bedeutet, von Gott verlassen zu sein.

Warum? Weil Er meine und deine un­zähligen Sünden, alle unseren bösen Gedanken, Taten und Worte vor Gott trug, als habe Er sie selbst verschuldet. Wie muss Er an seiner heiligen, reinen See­le gelitten haben, den ganzen Schmutz und Dreck unserer Sünden zu tragen und dafür gestraft zu werden!

Warum? Weil Gott darüber hinaus die Sünde selbst, den Charakter des alten Menschen, dieses böse, Gott widerstreitende Prinzip an Ihm gerich­tet hat. Gott verurteilte die Sünde im Fleisch (Röm 8,3), das heißt, in dem Menschen Jesus Christus, und machte Ihn, der Sünde nicht kannte, zur Sün­de (2. Kor 5,21). Der Herr Jesus war in dieser Zeit in Gottes Augen die Sünde! Wir würden dies nicht wagen auszusprechen, wenn Gottes Wort es nicht sagte. Der Herr Jesus trug also nicht nur die Strafe für unsere Sünden, sondern auch das Gericht über die Sünde und den Lohn der Sünde, den Tod (Rö 6,23).

„...hast du...": Man könnte hier auch das „du" betonen. Der Herr fragt, warum Gott Ihn verlassen hat. Gott, dem Er ununterbrochen vollkommen gedient hatte. Vorher lesen wir, dass die Jünger Ihn alle verließen und flohen (Mt 26,56).

Aber Gott, auf den Er seit seiner Menschwerdung vertraut hatte, dem Er nur gehorsam gewesen war — ge­rade Er verließ Ihn? Das zeigt uns, wie vollkommen heilig Gott ist, der Sünde nicht sehen kann und auch seinen ei­genen Sohn nicht schonen konnte (Rö 8,32). Wir sehen zudem, dass Christus wirklich vor Gott zur Sünde gemacht wurde — unfassbar!

„...mich...": Nie war ein Mensch von Gott verlassen gewesen. Auch David war, wie wir schon gesehen haben, nie wirklich von Gott verlassen worden. Sonst hätte er nicht einen Psalm spä­ter schreiben können: „Auch wenn ich wanderte im Tal des Todesschattens, fürchte ich nichts Übles, denn du bist bei mir" (Ps 23,4) und: „Nie sah ich den Gerechten verlassen" (Ps 37,25). Aber gerade Ihn, diesen Einen, Vollkomme­nen, Reinen verließ Gott wirklich. Dies geschah unserer Sünde wegen, die auf Ihm lag.

„...verlassen"?: Man spricht unter den Menschen oft von einem „gott­verlassenen Ort". Aber das ist nur menschliches Gerede. Kein Mensch kann ermessen, was es wirklich bedeu­tet, von Gott verlassen zu sein. Gott hätte aber allen Grund gehabt, uns zu verlassen - unserer Sünde wegen. Aber Christus war der einzige Mensch, der Anspruch darauf gehabt hätte, nicht von Gott verlassen zu werden - und wurde von Ihm verlassen.

Der Heiland war in dieser Zeit ganz al­lein. Gott wandte sich von Ihm ab, weil Gott zu rein ist von Augen, um Sünde zu sehen (Hab 1,13). Wir können je­derzeit zu Gott rufen und beten, wenn wir in Not sind. Bei Christus war es an­ders in diesen furchtbaren drei Stun­den. Wir lesen in den Klageliedern zwei erschütternde Verse, die darauf hinweisen: „Du hast dich in eine Wol­ke gehüllt, so dass kein Gebet hindurchdrang" (Klgl 3,44); und: „Wenn ich auch schreie und rufe, so hemmt er mein Gebet" (Klgl 3,8). In diesen drei Stunden konnte es keine Verbindung, keine Gemeinschaft zwischen Ihm, dem mit Sünde Beladenen, und dem heiligen Gott geben - wiewohl Er an­dererseits auch der Heilige war.

Keine Antwort

Wir lesen nichts von einer Antwort aus dem Himmel. Vorher hatte Gott schon mehrmals den Himmel geöffnet und sein Wohlgefallen über den Sohn ausgedrückt: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefun­den habe" (Mt 3,17; 17,5; Mk 9,7; Lk 9,35). Und als Er sonst rief, kam sofort die Antwort: „Vater, verherrliche dei­nen Namen! Da kam eine Stimme aus dem Himmel: Ich habe ihn verherr­licht und werde ihn auch wiederum verherrlichen" ( Joh 12,28). Aber jetzt kam keine Antwort aus dem Himmel, so vollständig verlassen war unser Heiland in diesen Augenblicken. So furchtbar ist die Sünde in den Augen Gottes, dass Gott hier seinem Sohn die Antwort verweigerte. Gott schwieg.

Doch eine Antwort?

Wir haben uns schon daran erinnert, dass der Gläubige doch eine Antwort kennt. Die Frage ist aber auch, ob wir eine Antwort geben. Damit meine ich nicht, dass wir tatsächlich die Frage des Herrn Jesus beantworten, son­dern dass unser Leben eine Antwort auf diese Frage ist. „Herr, wie kann ich danken dir für Golgatha? Will dich lie­ben durch mein Leben!" so heißt es in einem Lied. Es bedeutet, dass unser Leben eine Antwort darauf ist, dass Er von Gott verlassen wurde. Sozusagen eine Konsequenz aus Dankbarkeit —als würden wir sagen: „Du wurdest für mich von Gott verlassen, um mich von der Sünde zu befreien. Deswegen soll dir mein Leben gehören, meine Ant­wort darauf soll ein Leben des Gehor­sams und der Weihe sein."

Ist Er, der in die tiefsten Tiefen der Lei­den ging, ja, dein und mein Retter, es nicht wert?

 

Fußnoten

1 Diese Finsternis war übernatürlich. Eine totale Sonnenfinsternis dauert normalerweise höchstens 10 Minuten. Außerdem konnte zu dieser Zeit keine Sonnenfinsternis entstehen, denn diese findet immer bei Neumond statt, das heißt an dem Tag, an dem die jüdischen Monate beginnen. Das Passah fand aber am 14. Tag im Monat Abib statt, also bei Vollmond.