Messianische Juden

In Heft 2/98 haben wir die Frage gestellt, was messianische Juden sind. Ein Leser aus Kanada hat sich vor einigen Jahren intensiv mit dieser Frage auseinandergesetz und uns dazu  seine Antwort zugeschickt.

Einführung

Auf meinem Schreibtisch und in meinen Ordnern liegen einige Zeitungsartikel, viele Broschüren, Dokumente und periodische Schriften von allen möglichen messianischen Gruppierungen und noch mehr Bücher und Kassetten von, über, für und sogar gegen diese Gruppen. Ich habe mich ein wenig damit beschäftigt und möchte versuchen, etwas davon weiterzugeben.


Das Thema ist sowohl unter Juden als auch unter Christen sehr umstritten, und zwar aus mehreren Gründen und im Blick auf verschiedene Fragen. Zugleich ist dieses Phänomen eines schnell wachsenden messianischen Zeugnisses höchst interessant und manchmal faszinierend, doch auch eine Herausforderung für Christen, die an die Bibel glauben. Warum? Sehen wir nicht das Handeln Gottes darin, daß es in unseren Tagen wahrscheinlich mehr wiedergeborene Juden gibt als je zuvor, die Jünger unseres Herrn Jesus Christus oder Jeschua Hammaschiach, wie sie ihn nennen, sein wollen?


Wir werden heute mit immer mehr Gruppen konfrontiert, die sich selbst als ,,Messianische Juden", ,,Juden für Jesus", (Jesus als) den ,,Messias bekennende Juden", ,,Messianischer Judaismus" usw. bezeichnen. Einige betrachten sich als ,,wiedergeborene" Christen, obwohl sie zögern, diesen Namen zu benutzen. Andere würden es sogar ablehnen, als Christen bezeichnet zu werden. Manche sehen sich selbst als ,,vollendete Juden", während andere nichts dagegen haben, ,,hebräische Christen" oder ,,christliche Juden" genannt zu werden. Manche lehnen es ab, für die offensichtliche Veränderung in ihrem Leben und Glauben den Ausdruck Bekehrung zu gebrauchen. Andere gebrauchen nicht den Namen Jesus und sagen statt dessen Jeschua oder Jeschua Namrnaschiach (Messias).

Ein bemerkenswertes Phänomen


Einige führen ihre Gottesdienste in messianischen Synagogen oder in messianischen Gemeindehäusern durch, haben einen gottesdienstlichen Leiter, einen messianischen Rabbiner und eine messianische Liturgie. Auch wenn sie teilweise kirchliche Gebäude benutzen, vermeiden sie es doch meist, neben ihrer eigenen Gemeinschaft messianischer Juden (wir nennen sie in diesem Artikel MJ) eine Verbindung mit irgendeiner Kirche oder Benennung aufzunehmen, während andere das durchaus tun. Eine theologische Bildung erhalten sie in einer Yeshiva durch messianische Lehrer, die besonders die jüdischen Wurzeln und einen ,,jüdischen Charakter" des Neuen Testaments betonen. Andere wurden oder werden in evangelikalen Schulen, Seminaren und Universitäten ausgebildet.


MJ gibt es überall auf der Welt. Sie haben zahlenmäßig, besonders in den letzten Jahrzehnten, stark zugenommen. Doch warum werden sie von ihrem eigenen Volk als Ausgestoßene betrachtet und behandelt, und warum sind sie auch bei den großen christlichen Kirchen nicht gut angesehen? Manche evangelikalen Gruppen sind regelrecht begeistert über das Wachstum dieser messianischen Bewegung, während andere bibeltreue Christen die Glaubensgrundlagen der MJ ablehnen. Auf jeden Fall ist es eine höchst faszinierende Bewegung, die sich uns zum Studium und zur Beurteilung darbietet. Es ist nicht möglich, alle theologischen Auswirkungen der Punkte, die wir hier erwähnen, ausführlich darzulegen. Wir müssen uns auf einige Hinweise beschränken.

Was sind messianische Juden?

 

Die Frage ,,Wer ist eigentlich ein Jude?" entzweit die jüdische Gemeinschaft sowohl in Israel als auch in der ,,Zerstreuung" (d. h. außerhalb des Landes). Daher kann man verstehen, daß es also noch weitaus schwieriger ist, zu definieren, was ein ,,hebräischer Christ" oder ein ,,messianischer Jude" ist. Ich möchte an dieser Stelle auf Kapitel 7 des Buches Jesus was a Jew (,,Jesus war ein Jude") und auf das Buch Hebrew Christianify (,,Hebräisches Christentum") verweisen, wo Amold Fruchtenbaum das Thema auf Seite 13 folgendermaßen zusammenfaßt: „Was den Glauben betrifft, sind die hebräischen Christen in Übereinstimmung mit jedem, der an Christus glaubt, sei er Jude oder Heide, aber von der Nationalität her identifizieren sie sich mit dem jüdischen Volk." In How to be like the Messiah?(,,Wie kann man dem Messias ähnlich sein?") gibt John Bell die folgende Definition: ,,Wenn ein Jude den in den jüdischen Schriften verheißenen Messias annimmt, wird er ein messianischer Jude und steht somit in einer Reiche mit Mose, den Propheten und den Christen des ersten Jahrhunderts."

Mit diesen Definitionen haben wir wohl kaum Schwierigkeiten und erkennen bei dieser Gelegenheit auch, daß zwischen hebräischen oder jüdischen Christen und MJ eigentlich kein grundsätzlicher Unterschied besteht. Mehr Probleme haben wir jedoch mit denen, die sagen: „Wir haben uns nicht bekehrt. Wir haben das Judentum nicht verlassen. Wir haben einfach unseren Messias angenommenn. Eine verwirrende Situation, nicht nur für Juden und Christen aus den Nationen, sondern auch für die MJ selbst, da es in ihren eigenen Reihen viele Meinungsverschiedenheiten über dieses Thema gibt.

Zwischen 200 000 und 300 000 Juden haben sich im letzten Jahrhundert bekehrt und den Herm Jesus als ihren Messias und Erlöser angenommen. Viele von ihnen haben alles aufgegeben, was sie noch mit dem Judentum verband. Es war (und ist teilweise heute noch) Brauch, daß, wenn sich ein Jude bekehrt und sich taufen läßt, seine jüdischen Verwandten eine Trauerfeier für ihn abhalten und ihn fortan als gestorben betrachten und auch so behandeln, auch wenn sie ihm auf der Straße begegnen. Heute geht es schon fast ins andere Extrem. Immer mehr MJ leugnen jegliche Verbindung zum Christentum. Nach der Schrift gehören sie zu dem ,,großen Haus" (2. Tim 2,20ff.), wenn es auch einige nicht so sehen. Andere wiederum verstehen die Grundsätze von der Einheit des Leibes Christi (Eph 4,l-6) und betrachten sich selbst als einen Teil dieses Leibes. Andererseits gibt es auch wirklich wiedergeborene Juden, die nicht als Christen, nicht einmal im biblischen Sinn dieses Wortes, bezeichnet werden wollen.

Etwas zur Geschichte

 

Erstens führen die MJ ihre Geschichte zurück bis auf Mose und Abraham, und das natürlich zu Recht. Sie erkennen, daß viele der alttestamentlichen Verheißungen in Christus erfüllt worden sind und daß für andere Verheißungen zumindest die Grundlage gelegt ist. Aber viele von ihnen verstehen nicht, daß mit dem Kommen Christi, seinem Opfertod und Begräbnis, seiner Auferstehung und Verherrlichung ein völlig neues System eingeführt wurde, das letztlich zu einer Trennung von biblischem und rabbinischem Judentum führte.


Zweitens betrachten sie sich als zu den „Nazarenern" gehörig (Apg 24,5), den Messiasgläubigen Christen, die wir in der Apostelgeschichte, im Jakobus-, Hebräer- und 1. und 2. Petrusbrief antreffen. Diese wurden bei den Juden allgemein als eine neue jüdische Sekte betrachtet und als solche mehr oder weniger geduldet. Sie werden aufgerufen, die Apostelschaft und den Dienst des Paulus anzuerkennen (siehe z. B. 2. Petrus 3,15.16). Man kann aus den Schriften des Neuen Testaments und den historischen Überlieferungen erkennen, daß diese Nazarener (oder MJ) eine schwierige Zeit erlebten, besonders nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n. Chr. und nach dem Aufstand Bar Kochbas im Jahre 132 n. Chr. Aber sie blieben als Sekte unter den Juden bestehen. (Es ist für mich fraglich, inwiefern diese Nazarener und andere Gruppen, z. B. die Ebioniten, biblisches Christentum repräsentierten.)

Andererseits nahm der Druck seitens der Heidenchristen allmählich zu, die inzwischen unter der Macht des römischen Kaisers standen und ihr Leben nicht durch solche, die allgemein als Rebellen bekannt waren, in Gefahr bringen wollten. So trat das Judentum dieser MJ (Christen) allmählich in den Hintergrund, obwohl es durch die Jahrhunderte hindurch viele Juden gegeben hat, die den Herrn Jesus als ihren Messias und Erlöser annahmen, als ein Überrest nach Auswahl der Gnade (Röm 11,1-5) und als das wahre Israel Gottes (Ga1 6,16), bis dann im vorigen Jahrhundert und besonders in unseren Tagen die Betonung ihres Judentums mehr in den Vordergrund tritt. 


Drittens wird unter den MJ eine Bewegung immer deutlicher, die ganz besonders den jüdischen Ursprung und die jüdische Identität, jüdische Traditionen usw. hervorhebt. Ihren unmittelbaren historischen Ursprung kann man zurückführen auf das Ende des vorigen und den Beginn unseres Jahrhunderts, als die (internationale) Hebräisch christliche Allianz entstand und auch das Messianische Judentum besonders in den Vordergrund gerückt wurde. Heute ist diese Bewegung in vielen Ländern vertreten. In den USA und Kanada gibt es Ca. 100 verschiedene messianische Synagogen und Gemeinden, daneben viele  extreme und gemäßigte Gruppierungen. Viele der gemäßigten MJ zu einer der evangelikalen Kirchen. Die Betonung ihres Judentums nimmt jedoch zu. Sie sind sehr aktiv in der Verkündigung des Evangeliums und benutzen dazu die Presse, den Rundfunk und das Fernsehen. Sie geben eine Vielzahl von periodischen Schriften und Büchern zu allen möglichen Themen heraus und organisieren Bibelstudienkurse, Konferenzen, Musikveranstaltungen u. a. Sie sind auch in vielen europäischen Ländern, in Israel, Argentinien, Mexiko und Südafrika vertreten. Man schätzt die Zahl der messianischen Gläubigen und hebräischen Christen in ihrer Gesamtheit auf 250 000. Ich vermute, daß diese Zahl auch die Judenchristen einschließt, die zu einer ,,Heidenchristen-Gemeinde" gehören.

Einige Punkte zum Nachdenken und Beurteilen

Epheser 2 lehrt nicht daß die Christen aus den Nationen Teilhaber der Segnungen der judischen Bündnisse geworden sind. Das verstehen die MJ, die unsere geliebten Brüder in Christus sind - sofern sie von neuem geboren sind-, eben- so wie viele Theologen nicht. Sie erkennen nicht, daß die Gläubigen aus Juden und Heiden in Segnungen eingeführt  worden sind, die weitaus höher sind als die des Judentums, wie Epheser 2 und andere Abschnitte des Neuen Testaments uns lehren. Mit anderen Worten, es ist ein völlig  neues ,,System", ,,neue Dinge" (Apg 26,17ff.; 2. Tim 1.1.9). die Gott schon vor Grundlegung der Welt in seinem Plan hatte (nach Verheißung des ewigen Lebens) und die in den prophetischen Schriften des Neuen Testaments offenbart wurden (Röm 16,26; Eph 3). Andererseits dürfen wir aber auch nicht übersehen, daß beide, die Gläubigen aus den Juden und aus den Nationen der Segnungen Abrahams (der ,,alten Dinge") teilhaftig geworden sind (siehe z. B. Galater 3 und 4).


Wie auch immer, in dem funktionierenden Leib Christi ist nach den Grundsätzen von Römer 14 ganz offensichtlich auch Raum für das Jüdisch-Sein dieser hebräischen Christen, denn sie gehören zu dem Überrest Israels, sind gleichzeitig aber ,,in Christus" Teil einer neuen Ordnung und gehören zur Versammlung des lebendigen Gottes. Ein Teil des Problems liegt darin, daß man den Dienst des Apostels Paulus auf dieselbe Stufe des Dienstes der Apostel stellt, die in Jerusalem blieben.


Es gibt viele Dinge, die für die MJ sprechen: ihr Eifer, ihre Begeisterung, ihre Hingabe, ihr Einfallsreichtum. Andererseits vermischen viele von ihnen biblische Lehre mit menschlichen Traditionen, sogar mit Lehren der Rabbiner, die durchaus nicht alle falsch sind, aber oftmals eine Mischung aus göttlichen und menschlichen Elementen darstellen, besonders bei pfingstlerischen und charismatischen Richtugen.

Auch über wichtige neutestamentlicheGrundsätze gibt es sehr unterschiedliche Ansichten, zum Beispiel über die Gemeindepraxis, über das Berufen von Ältesten, über gottesdienstliche Leiter, über die Rolle der Frau im öffentlichen Dienst und Lehren. Neben dem Hebräerbrief möchte ich auf das Johannes-Evangelium hinweisen, worin besonders das Thema behandelt wird, das man vielleicht ,,Christus ist größer als ..." nennen könnte. In diesem Evangelium finden wir eine Darstellung der Größe Christi, die alles andere in den Schatten stellt, auch die bedeutendsten Dinge des Judentums: Mose (Joh 1,17ff.), Johannes den Täufer (1,26ff.). Die Herrlichkeit des Sohnes des Menschen übersteigt die des Messias Israels (1,49-51) und die des Tempels (2,20ff.). Himmlische Dinge, eingeführt durch Christus, sind größer als die irdischen Dinge, über die Er gesprochen hatte (3,l2ff.). Er ist größer als Jakob (4,11-14), größer als das Handeln Gottes in Verbindung mit dem Teich Bethesda (Kap. 5), größer als das Manna (Kap. 6), größer als das höchste jüdische Fest (Kap. 7) usw. Diese Gegenüberstellungen würden von jedem unbiblischen, menschlich-religiösem System befreien!

Schwerwiegender ist jedoch - obwohl viele MJ die grundlegenden Lehren des Neuen Testaments anerkennen -, daß einige ihrer theologischen Prinzipien aufgrund ihres Eifers, ihr Judentum hervorzuheben, ganz und gar nicht in Ordnung sind. zum Beispiel sagen einige MJ, daß 5. Mose 6,4 (,,Höre, Israel, der HERR unser Gott ist ein einiger HERR") die endgültige Offenbarung unseres Gottes ist. Das würde aber bedeuten, so, wie es geschrieben ist, daß es keine weitergehende Offenbarung gibt, und folglich würde das ausschließen, daß Gott mit dem Kommen Christi eine neue Ordnung der Dinge eingeführt hat. Das Glaubensbekenntnis der Messianisch-Jüdischen Allianz sagt: „Die Vollendung dieser Offenbarung ist uns im neuen  Bund gegeben." Das würde aber den Aussagen von Epheser 2 widersprechen, daß  Gott etwas Neues eingeführt hat, das sogar noch über die Verheißungen über einen neuen Bund hinausging. Es würde den neuen Bund auf dieselbe Ebene stellen wie den alten Bund, indem der neue nur eine Ergänzung des alten wäre. Außerdem wird der neue Bund mit dem Haus Israel und dem mit allen persönlichen und öffentlichen Haus Juda geschlossen (Jeremia 31,31), wäre dann also Platz für die Gläubigen aus den Nationen? Weiterhin betrachten sich die MJ als formell zum neuen Bund gehörend und folglich auch als Teilhaber an den zukünftigen Segnungen, die Gott bei der Er tausendjährigen Herrschaft des Herrn Jesus geben wird. Deshalb meinen viele, daß das Reden in Sprachen und Heilungen ein grundlegendes Merkmal ihrer  Bewegung sein müßten.

So entstehen leicht Mißverständnisse, nicht nur zwischen Christen aus den Nationen und den MJ, sondern auch zwischen MJ und den Repräsentanten der Hauptrichtungen des Judentums oder der Namenschristenheit. Aber bei den MJ gibt es auch in  den eigenen Reihen viele unterschiedliche Auffassungen und Gegensätze. Wir müssen deshalb sehr vorsichtig sein mit Erklärungen, Aussagen, Studien usw. und viele Dinge überprüfen, bevor wir eine Bewertung im Licht der Offenbarung Gottes vornehmen können.

Einige Beispiele dazu:

  •  Bekehrung: Dieser Begriff wird oft für den formellen Übertritt zum Christentum verwendet. Man kann daß die MJ diesen Ausdruck nicht lieben, weil sie dabei unwillkürlich an erzwungene ,,Bekehrungen" wie z. B. zur Zeit der Inquisition oder an andere Formen von ,,Zwangsbekehrungen" denken und an die Schande, die es heute bedeutet, wenn einer die jüdische Gemeinschaft verläßt. Andererseits kann man auch nicht einfach im jüdischen  Bereich bleiben, als gehöre man zu ihm (Joh 10, Heb 13) - was den Grundsatzeines Überrestes in Israel heute nicht aufhebt, wie wir oben gesehen haben -, denn der biblische Grundsatz der Bekehrung Konsequenzen bleibt bestehen. 
  • Beschneidung:Die Beschneidung ist abzulehnen, wenn  sie als ein ,,Mittel" zur Erlösung (Christus und Beschneidung) für sowohl Juden als richtung der Heiden auferlegt wird. Wir können es akzeptieren, wenn jüdische Gläubige in Aufrichtigkeit damit einfach in der Linie der Verheißungen Abrahams bleiben möchten; aber auch sie müssen lernen, daß es Gott viel mehr auf die geistliche Verwirklichung der Beschneidung ankommt als auf deren buchstäbliche, praktische  Durchführung. Es scheint mir schon da problematisch zu werden, wo diese äußerlichen Dinge aus Traditionsgründen praktiziert werden; dann ist die Sache falsch (zum Beispiel auch die Fußwaschung im buchstäblichen Sinn). 
  • Widersprüchlichkeit. MJ verneinen zu Recht die ,,Bundes-Theologie", die Gottes Verheißungen an Israel einfach vergeistlicht und vollständig auf die Kirche überträgt. Aber sie betrachten sich als diejenigen, mit denen Gott schon den neuen Bund eingegangen ist, was auch nicht richtig ist.
 

 Unser Verhalten

Wie sollten unsere Reaktionen im Blick auf die MJ sein?

  • MitfühIend: Man denke an das Verhalten des Vaters gegenüber dem verlorenen Sohn, aber auch seinem älteren Sohn gegenüber.
  • Verständnisvoll: Es ist ein Wachsturnsprozeß, in dem erst Erfahrungen gesammelt werden müssen, ehe die geistliche Reife erreicht wird.
  • WohIwollend: Man bedenke, daß wir als Christen aus den Nationen in der Schuld der Juden im allgemeinen stehen und besonders in der unserer jüdischen Mitgeschwister, denen wir das NT und viele andere Segnungen verdanken und die so viel von denen gelitten haben, die sich ,,Christen" nennen.
  • Standhaft: Was die Lehre und grundlegende Wahrheiten angeht, können wir keine Kompromisse eingehen, aber wir sollten den Unterschied zwischen fundamentalen und nicht fundamentalen Dingen beachten.
  • Dankbar: für das offensichtliche Wirken des Geistes Gottes, trotz allen Versagens und aller Mängel, die es auch unter den MJ gibt.

 

Eine Einschätzung und einige Fragen  

Betrachtet man die gesamte messianischjüdische Bewegung, so habe ich den Eindruck, daß wir in einer Übergangsphase leben, wo wir eine Bewegung in umgekehrter Richtung sehen. Die Geschichte der Kirche begann mit einer jüdischen Form der neutestamentlichen Kirche. Sie beteten im Tempel an, obwohl der Vorhang zerrissen war (was grundsätzlich die von Gott gewirkte Beiseitesetzung des Judentums bedeutete), und verharrten gleichzeitig im Brechen des Brotes. Diese von den Judenchristen praktizierte Form des Gottesdienstes endete einige Jahre vor der Zerstörung des Tempels, als sie Jerusalem verlassen mußten. Aber auch danach gab es die Nazarener unter den Juden, bis sie später allmählich verschwanden (s. oben). Heute nun ,,erscheinen" die Nazarener wieder, und zwar in Form (bestimmter Gruppen) der MJ, und bereiten den Weg, als wäre es eine ähnliche Situation wie damals.

Manchmal wird die Frage gestellt, ob diese MJ die Vorläufer des jüdischen Überrests sind, den es nach der Entrückung geben wird. Wenn wir nun versuchen, eine Antwort darauf zu finden, müssen wir bedenken, daß alle, gleich ob Gläubige aus den Juden oder aus den Heiden, die errettet sind und zur Erkenntnis der Wahrheit gekommen sind - von Pfingsten an bis zur Entrükkung -, zur Versammlung des lebendigen Gottes gehören (Apg 10 und 11; Offb 5,9). Wirklich wiedergeborene MJ, die ihren Glauben bekennen, gehören nach der Lehre des Neuen Testaments zu der weltumfassenden Kirche oder Versammlung (ekklesia), obwohl sie auch einen Sonderfall (einen Überrest in Israel) darstellen und zu dem Israel Gottes gehören. 

 Es ist viel für und gegen das messianische Judentum geschrieben worden. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß wir sehr fest stehen müssen, wenn es um grundlegende Wahrheiten geht, zum Beispiel um die Belehrungen des Galaterbriefes (den Weg der Errettung) oder des Hebräerbriefes (,,außerhalb des Lagers"). Im allgemeinen anerkennen die MJ jedoch die Apostelschaft und die Lehren des Paulus, wenn auch viele von ihnen unwissend sind wie zum Beispiel über die Bedeutung des Wortes ,,Geheimnis". Aber das ist ja leider auch bei vielen Christen der Fall.

Noch etwas, was leicht durcheinandergebracht wird: „Der Zionismus ist eine Schwester-Bewegung des messianischen Judentums" (so eine messianische Zeitung). Wenn wir auch vom menschlichen Standpunkt aus gesehen Sympathie für den Zionismus haben könnten, sollten wir doch wissen, daß sein Programm der Selbstverwirklichung und der Selbsthilfe ganz und gar humanistisch geprägt ist und unweigerlich zur Anerkennung des ,,Menschen der Sünde" führen wird. All die vermeintlich großen Dinge, die in Unabhängigkeit von Gott erreicht worden sind, werden der großen Drangsal zum Opfer fallen. Deshalb sollten wir nicht allzu enthusiastisch über die Erfolge dieser  Bewegung sein, obwohl wir auch hier Gottes Wirken in seiner Vorsehung erkennen können. Aber öffentlich wird sich Gott nur zu dem Überrest nach der Entrückung bekennen, zu all den Juden, die dam wiedergeboren werden und wirklich auf Gott vertrauen.