Bibel praktisch

Es war um die sechste Stunde

Welcher Zeitpunkt ist mit der sechten Stunde an dieser Stelle gemeint? War es zwölf Uhr mittags, wie man häufig hört? Diese Frage wollen wir nun untersuchen und gleichzeitig einige grundsätzliche Bemerkungen über die Stundenberechnungen im Neuen Testament machen, deren Kenntnis sicherlich von Nutzen sein kann.

Die jüdische Stundenberechnung

Nach jüdischem Verständnis begann ein Tag am Abend (bei Sonnenuntergang) und dauerte bis zum nächsten Abend. Er wurde in zwei mal zwölf Stunden unterteilt: von abends sechs Uhr bis morgens sechs Uhr und von morgens sechs Uhr bis abends sechs Uhr. Natürlich ist die Zeitangabe von sechs Uhr für den Sonnenuntergang - und damit für den Beginn des neuen Tages - nur ein Durchschnittswert, da der Zeitpunkt des Sonnenuntergangs von der jeweiligen Jahreszeit abhängig ist (in Palästina variiert die Zeitdauer des Tages zwischen zehn und vierzehn Stunden). Diese Vereinfachung ist allgemein üblich und kommt den tatsächlichen Verhältnissen sehr nahe, so daß man bei der Umrechnung der jüdischen Zeitangaben gut von dieser Grundlage ausgehen kann. Die dritte Stunde entspräche dann der neunten unseres Tages, die sechste Stunde unserer zwölften usw.


Stundenangaben im Johannesevangelium

Diese Methode findet grundsätzlich im Neuen Testament Verwendung. Eine Ausnahme bildet das Evangelium nach Johannes. Dieses Evangelium ist bekanntlich wesentlich später als die anderen Evangelien geschrieben worden. Es wurde von dem greisen Apostel Johannes möglicherweise als letztes Buch der Bibel verfaßt. Jedenfalls fällt seine Entstehung in die Zeit nach der Zerstörung Jerusalems durch die Römer und der damit verbundenen Zerstreuung der Juden im Jahr 70 n.Chr. Johannes schrieb daher in einer Zeit, als die römische Herrschaft und Verwaltung einen sehr weitreichenden Einflug hatten.
Die Empfänger seines Evangeliums waren überwiegend Gläubige aus den Nationen, was man beispielsweise daran erkennen kann, daß er aramäische Namen übersetzt (1,38.41.42), jüdische Gewohnheiten erklärt (4,9) und sogar bei bekannten Orten eine genaue Definition hinzufügt (5,2). Für einen Juden wären diese Angaben wohl kaum nötig gewesen. Daher läßt es sich gut nachvollziehen, daß Johannes die Zeitrechnung der Römer benutzte, die unserer heutigen entspricht. Man zählte die Stunden des Tages von Mitternacht bis Mitternacht, unterteilt zwei mal zwölf Stunden.


Die Zeitangabe in Johannes 19,14 kann nur unter dieser Voraussetzung plausibel erklärt werden. Dort wird berichtet, daß das Verhör des Herrn vor Pilatus um die sechste Stunde stattfand (sechs Uhr morgens, nach römischer Zeitrechnung). Vergleicht man das mit den Zeitangaben in den anderen Evangelien, wo der Zeitpunkt der Kreuzigung mit der dritten Stunde (Mk 15,25) und die damit verbundene Finsternis mit der Zeit zwischen der sechsten und neunten Stunde (Mt 27,45; Mk 15,33; Lk 23,44) angegeben wird, so ergibt sich ein Widerspruch, sofern man nicht von einer unterschiedlichen Stundenzählung ausgeht.


Wenn nun Johannes an dieser Stelle die römische Methode anwandte, liegt die Schlußfolgerung nahe, daß er sie in seinem Evangelium durchgängig verwendet hat.


Im folgenden wollen wir dieser Vermutung im einzelnen nachgehen und zum Schluß unsere besondere Aufmerksamkeit auf die Stelle in Johannes 4 richten, die ja der Ausgangspunkt dieses Artikels ist.


Johannes 1,39: Die ,,zehnte Stunde" kann eigentlich nur auf den Morgen bezogen werden (römische Zeitrechnung), denn es wird ausdrücklich erwähnt, daß die Jünger den ganzen Tag bei dem Herm blieben. Würde man, nach jüdischem Verständnis, von nachmittags vier Uhr ausgehen, wäre der Hinweis auf den ganzen Tag nicht einleuchtend, denn dann wären die Jünger nur noch zwei Stunden bei dem Herm gewesen! 

 

Der Apostel Johannes wählte, im Gegensatz zu den anderen, neutestamtlichen Schreibern, bei der Stundenberechnung die römische und nicht die jüdische Methode.

 

Johannes 4,52: Sollte die ,,siebte Stunde" mittags ein Uhr entsprechen (jüdische Zeitrechnung), dann hätte sich der königliche Beamte sicherlich noch auf den Weg von Kana nach dem ungefähr sieben Stunden entfernten Kapernaum (vgl. V. 46) gemacht. Es scheint aber so, als hätte der Vater aufgrund der hereinbrechenden Dunkelheit bis zum nächsten Tag gewartet, denn unterwegs traf er seine Knechte, die ihm berichteten, daß sein Kind ,,gestern zur siebten Stunde" genesen war. Demnach hatte der Herr die Heilung des Knaben am Vortag, abends um sieben Uhr, verkündigt.


Nun noch ein Blick auf Johannes 11,9: „Hat der Tag nicht zwölf Stunden?" Diese Angabe scheint eher mit dem Zeitverständnis der Juden übereinzustimmen, die ja vom Abend bis zum Morgen und vom Morgen bis zum Abend rechneten. Wir wollen jedoch hier beachten, daß Johannes lediglich die Worte des Herrn Jesus zitiert. Es geht an dieser Stelle hauptsächlich um den Gegensatz zwischen dem Tag und der Nacht, unabhängig von der Methode der Zeitermittlung.

Die sechste Stunde in Johannes 4,6

Nun kommen wir zu der Stelle in Johannes 4,6. Viele nehmen wie bereits erwähnt an, daß die Frau am Jakobsbrunnen zu der ungewöhnlichen Mittagszeit zum Wasserschöpfen kam, da sie aufgrund ihres schlechten Rufes (V.18) von der Gesellschaft ausgegrenzt wurde und deshalb den Kontakt mit den anderen Frauen vermeiden wollte. Doch ist diese Annahme richtig? Sie verkehrt völlig frei mit den Bewohnern ihrer Stadt (V.29), ihrem Zeugnis wird sogar großes Vertrauen entgegengebracht (V. 39.42).


Wir wollen auch bedenken, daß der Mittag eine sehr ungewöhnliche Zeit war, um Einkäufe zu tätigen (V.8). Nebenbei sei bemerkt, daß das Mittagessen bei den Juden ohnehin eine eher untergeordnete Bedeutung hatte (vgl. 1. Kön 17,6). Die Hauptmahlzeit war das Abendessen, das nach getaner Arbeit eingenommen wurde (vgl. Lk 17,7)

Geht man, entsprechend der römischen Zeitrechnung, von sechs Uhr abends aus, so können alle Handlungen dieser Szene sehr gut in diesen Zeitrahmen eingeordnet werden: 

  • die Frau ging zur üblichen Zeit zum Wasserschöpfen (vgl. 1. Mo 24,11)
  • Jesus setzte sich nach einer langen Tageswanderung ermüdet an der Quelle nieder
  • seine Jünger kauften zur gewöhnlichen Zeit Speise für die Hauptmahlzeit

Zusammenfassung

Der Apostel Johannes wählte, im Gegensatz zu den anderen neutestamentlichen Schreibern, bei der Stundenberechnung die römische und nicht die jüdische Methode. Alle Zeitangaben in seinem Evangelium können besser in Übereinstimmung mit der römischen Berechnungsart gebracht werden (bei der Stelle in Johannes 19,14 ist dies sogar eine zwingende Notwendigkeit). Das gilt nicht zuletzt auch für Johannes 4,6