Bibelstudium

Jeremia, der weinende Prophet (3)

Das Buch Jeremia gehört zu den Büchern der Bibel, die nicht so häufig gelesen werden. Der Unterschied zu den meisten anderen prophetischen Büchern besteht darin, dass vergleichsweise viel über den Propheten selbst berichtet wird. Es stellt uns einen treuen Diener in einem schwierigen Umfeld vor. Wir wollen einige Schlaglichter auf Jeremia werfen und so sein Leben und seinen Dienst zu uns sprechen lassen.

 

Jeremia hat Fragen

Die Situation war für Jeremia alles andere als einfach. Er war hin und hergerissen zwischen seiner Liebe zum Volk einerseits und heiligem Zorn über ihre Sünden andererseits. Gleichzeitig erfuhr er von allen Seiten Widerstand und Verachtung. Unter diesem Eindruck stellte er mehrere Warum-Fragen an Gott, ähnlich, wie wir das auch bei Habakuk finden (Kap. 1,3.13).

 

Warum ist der Weg der Gottlosen glücklich?

Die erste Frage finden wir in Jeremia 12,1. Es ist eine oft gestellte Frage, die wir auch an anderen Stellen in der Bibel finden, z.B. bei Hiob, David (Ps 37) und Asaph (Ps 73). Der Auslöser war, dass die Männer seiner Heimatstadt, aus Anatot, ihn verfolgten (Kap. 11,21), und Gott hatte sie nicht zur Rechenschaft gezogen, sondern sie gewissermaßen gepflegt (Kap. 12,2). Die Antwort Gottes ist hart (Kap. 12,5): Es gab zwar ein paar Anschläge auf Jeremia, aber Gott muss ihm sagen, dass er eigentlich noch nicht viel durchmachen musste. Er hatte bisher nur in einem „Land des Friedens“ gelebt, wie sollte es dann erst „in der Pracht des Jordan“ sein, wo die Löwen lauern – wenn es mal richtig gefährlich werden sollte? Jeremia war bisher nur „mit Fußgängern“ gelaufen. Wie sollte das mal werden, wenn er „mit Pferden“ um die Wette laufen müsste? Eine erstaunlich harte Antwort Gottes. Warum? Gott bereitete Jeremia hier auf die Zukunft vor: In seinem Prophetendienst würden ihm noch schlimmere Erlebnisse bevorstehen. Hunger zu leiden in der Belagerung und später in eine Grube geworfen zu werden – das sollte noch auf ihn zukommen. Gott bereitete ihn langsam auf diese Situationen vor.

Sind nicht auch wir manchmal schnell erschöpft und meinen, die Last des Dienstes sei uns zu schwer? Aber was müssen wir im Dienst für den Herrn denn entbehren, im Vergleich zu Dienern in sogenannten Entwicklungsländern oder in Ländern, wo der Islam herrscht? So wie Gott Jeremia sagte: Wenn du in einem „Land des Friedens“ Angst hast, wie soll es erst am Jordan sein, wo die Löwen lauern?

Gott zählte dann einige Dinge auf, die auf Jeremia zukommen würden (Kap. 12,6): Bisher waren die „Männer von Anatot“ hinter ihm her; er war betrübt, dass die Männer seiner Stadt gegen ihn waren, aber Gott teilte ihm mit, dass sogar seine eigenen Brüder gegen ihn waren. Er stand ganz alleine da, aber Gott war bei ihm. War das nun hart? Nein, es war die Liebe Gottes, die ihn davor bewahrte, auf Menschen zu vertrauen, und ihn dahin führte, stattdessen sein Vertrauen auf Gott zu setzen.

Schließlich klagte Gott selbst über den „Liebling seiner Seele“ (Kap. 12,7). Wir denken bei diesem Ausdruck gerne an Jesus, den Sohn Gottes, aber in erster Linie ist hier das Volk Gottes, ist Juda gemeint. Wir machen uns auch manchmal Sorge um das Volk Gottes, aber es ist nicht unser Volk, sondern Gottes Volk. So sehen wir, wie Gott hier über sein Volk klagte.

 

Warum kümmert Gott sich nicht um sein Volk?

Die zweite Warum-Frage finden wir in Kapitel 14,7-9. Jeremia machte sich hier eins mit dem Volk und bekannte dessen Sünden. Aber dann fragte er Gott, warum Er sich scheinbar nicht um sein Volk kümmerte, sondern wie ein Fremder war, der sich nicht in die Angelegenheiten eines Ortes einmischte (V. 8). Und warum tat Gott so, als ob Er nicht helfen könne (V. 9)? Das Volk war doch mit dem Herrn auf Engste verbunden, ja nach Ihm benannt. Gott ließ sich nicht erweichen: Sein Urteil stand fest; Jeremia sollte nicht für das Volk bitten (V. 11).

Warum wieder diese hart klingende Antwort? Wie schon bei der ersten Warum-Frage scheint es, als ob Gott seinen Diener auf die kommenden, noch schlimmeren Umstände vorbereiten wollte.

Interessant ist auch, wie der Prophet in den folgenden Versen für das Volk eintrat und quasi als Entschuldigung anführte, dass sie von falschen Propheten in die Irre geleitet wurden. Gott fällte ein hartes Urteil über diese Lügenpropheten. Wer im Namen Gottes Lüge verbreitet, zieht immer ein besonders ernstes Gericht auf sich.

 

Warum hat Gott sein Volk geschlagen, ohne Aussicht auf Heilung?

Etwas später in diesem 14. Kapitel fragte Jeremia, warum Gott sein Volk schlug (V. 19). Die Antwort gab er in Vers 20 selbst: Es war wegen ihrer Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit. Trotzdem appellierte er an Gott: „Verschmähe uns nicht um deines Namens willen“ (V. 21). Jeremia bat erneut darum, dass das Volk nicht verstoßen würde, aber nicht um des Volkes willen, sondern um des Namens Gottes willen. Er wurde dabei zu einem ähnlichen Beter wie Mose, der aus gleichem Grund Gott bat, das Volk Israel zu verschonen.

Doch Gottes Antwort änderte sich nicht. Der Zustand im Volk Israel war so schrecklich, dass Gott selbst auf Mose (s.o.) und Samuel, die bekannten Fürbitter, nicht hören würde. Es war wegen der Sünden des bösen Königs Manasse (Kap. 15,4).

 

Warum ist mein Schmerz beständig und mein Schlag tödlich?

In Kapitel 15,18 stellte Jeremia seinen eigenen Schmerz in den Vordergrund. Wie die vorhergehenden Verse zeigen, hatte er in allem Gott gedient und nicht an den Freuden des Volkes teilgenommen. Er war allein, weil er die Gerichte Gottes ankündigen musste („weil du mit deinem Grimm mich erfüllt hast“, V. 17). So fragte er sich, warum er dieses Leid ertragen musste, obwohl er treu den Willen Gottes ausgeführt hatte.

„Deine Worte waren vorhanden, und ich habe sie gegessen, und deine Worte waren mir zur Wonne und zur Freude meines Herzens; denn ich bin nach deinem Namen genannt, Herr, Gott der Heerscharen“ (V. 16). Diesen Vers wenden wir gerne auf den Herrn Jesus an, der sagen konnte, dass Er immer das dem Vater Wohlgefällige getan hatte, aber es war tatsächlich Jeremia, der hier von sich sprach. Beachten wir außerdem, dass Jeremia in seiner Verzweiflung ungute und unbedachte Worte wählte. Er verglich Gott quasi mit einem „trügerischen Bach“ (V. 18), d. h. er betrachtete die Art und Weise, wie Gott mit ihm umging, als undurchsichtig. Jeremia hatte immer alles für Gott gegeben und wenn er nun dermaßen leiden musste, so war das in seinen Augen unfair, ja sogar betrügerisch.

Es liegt uns fern, den hervorragenden Diener Jeremia hier kurzerhand zu verurteilen, aber Gott darf man auch nicht quasi trügerisch nennen. Entsprechend deutlich fiel an dieser Stelle die Antwort Gottes aus. Er sagte: „Wenn du umkehrst, so will ich dich zurückbringen, dass du vor mir stehst“ (V. 19). Mit anderen Worten: „Wenn du so weiterredest, kann ich dich nicht mehr gebrauchen.“ Sehr ernste Worte! Einen ähnlichen Fall finden wir bei Elia, der auch Worte in den Mund nahm, die Gott gar nicht gefielen, sodass ihm das Ende seines Dienstes angekündigt wurde: Er sollte seinen Nachfolger salben.

Wir staunen oft, mit welcher Langmut Gott seine Geschöpfe erträgt. Doch es gibt auch eine „rote Linie“ und diese hatte Jeremia übertreten, als er Gott – wenn auch fragend – mit einem trügerischen Bach verglich. Gott gab ihm in seiner Gnade allerdings noch eine Chance, wenn er von seinen Worten unverzüglich umkehren würde.

Weiter gab Er ihm einen Hinweis zu seiner Wortwahl bzw. seinen Aussagen. Er sagte: „Du sollst nicht zu ihnen umkehren“ (V. 19). Das, was Jeremia in den Versen 15-18 gesagt hatte, insbesondere die Aussage, dass Gott ein „trügerischer Bach“ sei, war die Redeweise des gottlosen Volkes. Diese Redeweise passte nicht zu einem Diener Gottes. Stattdessen sollte Jeremia „das Kostbare“, die Worte Gottes reden – gerade nicht die bösen Worte des Volkes! Ein wichtiger Hinweis für alle, die heute Gott dienen möchten!

Im Anschluss gab Gott Jeremia noch einige ermunternde Worte mit, da Er wusste, dass Jeremia umkehren würde. Er wiederholte seine Verheißung gegenüber Jeremia, die Er schon am Anfang gemacht hatte: „Ich werde dich diesem Volk zu einer festen ehernen Mauer machen, und sie werden gegen dich kämpfen, aber dich nicht überwältigen; denn ich bin mit dir, um dich zu retten und dich zu befreien, spricht der Herr“ (vgl. Kap. 15,20; mit Kap. 1,18.19). Hinzu kam noch die Zusage, dass Gott ihn aus der Hand der Bösen und aus der Faust der Gewalttätigen befreien würde (V. 21).

Wie gnädig und zugleich weise ist Gott, dass Er hier, als Jeremia an einem Tiefpunkt angelangt war, ihm diesen Trost zukommen ließ. Nein, Gott lässt einen Diener, der am Boden liegt, nicht einfach liegen, selbst wenn Er über böse Worte („trügerischer Bach“) nicht einfach hinweggehen kann. Das macht uns einerseits vorsichtig im Blick darauf, welche Reden wir Gott gegenüber führen. Andererseits staunen wir über die Güte und Gnade Gottes. Wenn wir denken, dass wir am Ende sind, ist Gott mit uns noch lange nicht am Ende!

 

Warum bin ich überhaupt geboren, bei all dieser Mühsal?

Die letzte Warum-Frage steht in Kapitel 20: „Warum bin ich doch aus dem Mutterleib hervorgekommen, um Mühsal und Kummer zu sehen?“ (V. 18). Wie kam es zu dieser Frage? Jeremia wurde aufgrund der Gerichtsankündigungen gefesselt (V. 2). Immer wieder hatte er in der Vergangenheit Gericht ankündigen müssen und wurde vom Volk nicht ernst genommen (V. 7-10). So treffen hier zwei Dinge zusammen. Zum einen war es die Botschaft an sich. Nie hatte er positive, motivierende Worte Gottes an das Volk richten dürfen, immer und immer wieder ausschließlich Gerichtsankündigungen. Zum anderen war er wegen dieser Prophezeiungen immer wieder dem Spott und Hohn des Volkes ausgesetzt. Dies hatte ihn auf die Dauer ermüdet. Trotzdem war er sich der Bewahrung in diesen Schwierigkeiten bewusst, Jeremia spricht sogar einen Lobpreis aus (V. 11-13).

Die dann folgenden Aussagen Jeremias zeigen aber, wie tief alle Anfeindung Jeremia getroffen hatte. Eine vergleichbare Stelle finden wir nur in Hiob 3, aber ansonsten gibt es keinen Fall in der Schrift, wo ein Mensch so tief verzweifelt war, dass er sich wünschte, nie geboren worden zu sein. So schwer kann ein Diener Gottes zu leiden haben. Einer der hervorragendsten Diener Gottes ist hier am Ende seiner Kräfte. Auf diese Warum-Frage gibt Gott allerdings keine Antwort. Sie bleibt letztlich offen.

Die Bibel zeigt uns die Diener Gottes, selbst so treue Personen wir Jeremia, nicht als unrealistische Superhelden. Es sind Menschen wie du und ich, die im Herrn ihren Trost finden. So wollen wir die Antwort auf diese Frage ebenfalls offen lassen und diesen Punkt mit den aufmunternden Worten aus Jeremia 20,13 beenden: „Singt dem Herrn, preist den Herrn!“ – auch dann, wenn es scheinbar gar nichts Positives mehr für uns gibt.