Bibelstudium

Jeremia, der weinende Prophet (2)

Das Buch Jeremia gehört zu den Büchern der Bibel, die nicht so häufig gelesen werden. Der Unterschied zu den meisten anderen prophetischen Büchern besteht darin, dass vergleichsweise viel über den Propheten selbst berichtet wird. Es stellt uns einen treuen Diener in einem schwierigen Umfeld vor. Wir wollen einige Schlaglichter auf Jeremia werfen und so sein Leben und seinen Dienst zu uns sprechen lassen.

 

Die Situation im Volk

Nach 23 Jahren Prophetendienst im Volk Gottes hielt Jeremia Rückschau

(Kap. 25,3). Zunächst war der erschütternde Zustand des Volks festzustellen. Gott hatte sie oft gewarnt. Den Ausdruck „früh mich aufmachend und sendend“ o.ä. finden wir elfmal im Buch Jeremia[1]. In Amos finden wir ähnliche Aussagen über das Nordreich zur Zeit Jerobeams II; dort hatte Gott allerdings bereits mit Gerichten begonnen. Immer lautete das Fazit: „Dennoch seid ihr nicht bis zu mir umgekehrt“. Es ist eine schreckliche Sache, wenn man die Züchtigung Gottes ausschlägt. Genau dies hatte Israel aber immer wieder getan, und selbst nach der Wegführung des Nordreichs war Juda nicht umgekehrt, sondern hatte es noch schlimmer getrieben als Samaria (vgl. Hes 23).

Jetzt war das Gericht über Juda fest beschlossen – das hatte schon die Prophetin Hulda Josia mitgeteilt (vgl. 2. Kön 22,15-17). Deshalb sollte Jeremia nicht (mehr) für das Volk beten (Kap. 7,16; 15,1). Gott hatte es oft gewarnt („früh mich aufmachend und redend“), aber es hatte nicht gehört. Nun war es zu spät; es war kein Entrinnen mehr möglich.

Gottes Langmut währt nicht unendlich, und das ist sehr ernst. Wer die Warnungen Gottes mehrfach übergeht und nicht beachtet, für den kann es einmal zu spät sein (vgl. Spr 29,1). Auch Elihu spricht im Buch Hiob davon, dass Gott einen Menschen zwei-, dreimal warnt, „um seine Seele abzuwenden von der Grube“ (Hiob 33,29). Er tut es nicht beliebig oft! Dieser Grundsatz lässt sich eingeschränkt auch auf Gläubige anwenden. Zwar kann ein wiedergeborener Christ nicht verloren gehen, aber im Hinblick auf Gottes Wege mit uns auf der Erde wird Er uns züchtigen, wenn wir als Zeugen Christi nicht mehr taugen – „damit wir nicht mit der Welt verurteilt werden“ (1. Kor 11,32).

Warum nun sollte Jeremia das Volk noch zur Buße aufrufen (Kap. 25,5)? Nun, auch wenn sie alle unter die Nationen zerstreut werden würden, so würde der Überrest Buße tun und zurückkehren. Außerdem wird Gott immer ein bußfertiges Herz erhören. Die Güte Gottes ist für uns oft erstaunlich; selbst als sich der völlig gottlose König Ahab ein wenig unter das Urteil Gottes gedemütigt hatte, war Gott sogleich bereit, das Gericht abzumildern (1. Kön 22,27-29). Wie groß ist doch Gott – und wie kleinlich sind wir oft, wenn es darum geht, unserem Bruder oder unserer Schwester zu vergeben.

Bevor wir uns weiter in die Situation, wie sie in Jeremia 25 beschrieben wird, vertiefen, wollen wir uns einen Überblick verschaffen über das, was seit der Krönung Josias in Israel und in der Umgebung geschah. Da die Jahresangaben für die genannten Ereignisse von Quelle zu Quelle abweichen, sind diese nur als Anhaltspunkt zu sehen.

 

Jahr (v.Chr.)

Begebenheiten

640 Josia wird König (2. Chr 34,1).
627 Beginn des Dienstes von Jeremia (Jer 1,2).
626 Nabopolassar wird König über Babel. Er verriet damit seinen Herrn, denn er war Feldherr des assyrischen Königs, des Sohnes von Assurbanipal (Osnappar, Esra 4,10).
622 Höhepunkt der Erweckungsbewegung unter Josia mit einer Passahfeier (2. Chr 35,19).
612 Eroberung von Ninive durch Nabopolassar. Damit entstand faktisch das Babylonische Reich.
610 Neko (Necho II.) wird Pharao in Ägypten.
609 Krieg um das zerfallende Assyrische Reich. Josia greift in diesen Krieg ein und fällt (2. Chron 35,20).
609 Joahas wird König (2. Kön 23,31).
609 Neko unterwirft Israel und setzt Joahas gefangen. Er macht Eljakim, den Bruder Joahas' zum König und ändert seinen Namen in Jojakim (2. Kön 23,33-34).
606 Nebukadnezar, damals Heerführer unter Nabopolassar, führt einen ersten Eroberungszug gegen die von Ägypten beherrschten Länder Syrien und Palästina. Erste Belagerung Jerusalems, aber noch keine Einnahme. Erste Wegführung nach Babel (Dan 1,1-2).
605 Schlacht in Karchemis. Nebukadnezar besiegt Neko (Jer 46,2). Die Macht Ägyptens ist damit gebrochen und Babylon steigt zum Weltreich auf. Jojakim wird Babel tributpflichtig (2. Kön 24,1).
605 Nabopolassar stirbt. Nebukadnezar kehrt nach Babel zurück, um den Thron zu besteigen.
601 Nebukadnezar unterliegt einem ägyptischen Heer; Jojakim stellt die Tributzahlungen ein (2. Kön 24,1).
598 Nebukadnezar kehrt zurück, zweite Belagerung Jerusalems. Jojakim hat dann vermutlich in der Nacht einen Ausbruchsversuch unternommen, aber Nebukadnezar hat ihn gekettet um ihn nach Babylon zu bringen (2. Chr 36,6). Jojakim muss aber dabei gestorben sein, so dass er einfach auf die Erde geworfen wurde („Eselsbegräbnis“, Jer 22,18.19;36,30).


 

Der in Jeremia 25 geschilderte Rückblick und die damit zusammenhängende Prophezeiung fanden im vierten Jahr Jojakims statt (605 v. Chr.), genau in dem Jahr, als der Feldherr Nebukadnezar die Äpypter in Karchemis besiegte und Babel damit zur Weltmacht aufstieg. Gleichzeitig war dies das Jahr, in dem Nebukadnezar König über Babel wurde.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Jeremia eine neue Botschaft. Während er bislang mehr vor einem kommenden Gericht gewarnt hatte, sagte er nun konkret die Eroberung von Jerusalem durch die Babylonier voraus.[2] Als die Belagerung dann tatsächlich begann, prophezeite er den bevorstehenden Sieg Nebukadnezars und forderte dazu auf, das Gericht Gottes anzuerkennen, sich dem babylonischen Heer zu ergeben und nach Chaldäa mitzugehen. Nach dem Sieg Nebukadnezars verkündigte er, dass man dem König von Babel dienen und im Land bleiben solle. In Ägypten letztendlich finden wir die Ankündigung der Vernichtung der geflüchteten Juden durch Nebukadnezar in Ägypten. Jeremias Botschaft entsprach jeweils der vorliegenden Situation, in der er bzw. die Juden sich befanden.

Während der Dienstzeit Jeremias wurde der geistliche Zustand Israels immer schlechter. War der Beginn unter Josia noch von positiven Impulsen geprägt, so ging es in der ganzen Zeit stetig bergab. Die große Erweckung durch Josia schien das Volk insgesamt nicht erreicht zu haben; es war für die meisten wohl nur eine äußere Form gewesen. Sie waren nur „mit Falschheit“ (Kap. 3,10) umgekehrt. Während zur Zeit Josias aber wenigstens die Führungsschicht des Volks noch das Wort Gottes achtete, war das zur Zeit Jojakims vorbei. Wir finden ein krasses Beispiel davon in Jeremia 36:

Der Prophet erhielt dort den Auftrag, die Worte Gottes in eine Buchrolle zu schreiben. Dies fand ungefähr zum gleichen Zeitpunkt statt wie die Voraussage aus Jeremia 25 (vgl. Kapitel 36,1 mit Kapitel 25,1).  Etwa ein Jahr später hatte man ein Fasten vor dem Herrn ausgerufen (Kap. 36,9). Diese Gelegenheit schien geeignet, um die Fürsten durch ein Wort Gottes aufzurütteln, und so las Baruch im Tempel aus jenem Buch vor.

Obwohl das Fasten nur eine formale Aktion gewesen zu sein scheint, waren die Fürsten von den ersten Worten aufgerüttelt (V. 16). Sie waren der Meinung, dass diese wichtige Botschaft unbedingt dem König mitzuteilen sei. Nun wurde das Buch dem König vorgelesen. Der blieb trotz der ernsten Worte unberührt und zerschnitt und verbrannte die Mitteilungen Gottes (V. 23). Eine größere Verachtung des Wortes Gottes kann man sich kaum vorstellen.

Bei dieser Situation erfüllte sich die Vision des Mandelstabs, die Jeremia zu Beginn seines Diensts erhielt. Gott sorgte dafür, dass Jeremia nichts geschah (V. 26), und Gott wachte auch über sein Wort (V. 28). Das Wort Gottes kann man nicht durch Verbrennen zerstören und sich schon gar nicht dadurch dem Gericht Gottes entziehen. Im Gegenteil, das Gericht wurde nun sogar erweitert: „Und es wurden noch viele Worte gleichen Inhalts hinzugefügt“ (V. 32).

 

Jeremias Gefühle

Man kann sich gut vorstellen, dass solche Erlebnisse an dem treuen Diener Jeremia nicht spurlos vorbeigingen. Die Kapitel 2 bis 25, die er größtenteils in dieser Zeit geschrieben hat, warnen einerseits vor dem Gericht, aber sie drücken auch an vielen Stellen die Gefühle Jeremias bzw. des treuen Überrests aus.

Jeremia 8,21-23 zum Beispiel zeigt uns den Schmerz, den Jeremia beim Anblick der Leiden des Volkes empfand. Keine Spur von Selbstherrlichkeit oder gar Schadenfreude. Dadurch wird Jeremia zu einem direkten Vorbild für uns. Tragen wir auch Leid über den Zustand in der Christenheit, oder sehen wir uns als eine fromme Elite, die meint, nicht davon betroffen zu sein? Schmerzt uns der Gedanke, dass manche Glaubensgeschwister weltförmig geworden sind, indem sie sich in ihren Interessen und Aktivitäten kaum von der Welt unterscheiden? Oder denken wir an die vielen Probleme in Ehen und Familien sowie an Süchte unter Gläubigen! 

Jeremia war entsetzt und weinte. Darin erinnert er an den Herrn Jesus, der beim Anblick Jerusalems weinte (Lk 19,41). Der Herr Jesus und auch Jeremia, haben in ihrem Dienst das Volk Gottes auf dem Herzen getragen – ein wichtiger Grundsatz für jeden, der heute dem himmlischen Volk Gottes dient. Dienst für den Herrn ist kein „Job“, dem man so erledigt wie irgendeinen Beruf. Liebe zum Volk Gottes ist unbedingte Voraussetzung, auch wenn der Dienst nicht für das Volk Gottes, sondern für den Herrn getan wird.

Es ist überaus bemerkenswert, dass Jeremia diese Gefühle für das Volk zeigte, obwohl es ihn und seine Botschaft klar ablehnte. Wie gehen wir damit um, wenn unsere Geschwister auf unsere Warnungen nicht hören und sie die Folgen tragen müssen? Denken wir dann: „Selbst schuld“? Jeremia handelte völlig anders: „Wenn ihr aber nicht hört, so wird meine Seele im Verborgenen weinen wegen eures Hochmuts; und tränen wird mein Auge und von Tränen rinnen“ (Jer 13,17). Ähnliches gilt auch, wenn Trennungen unter Geschwistern geschehen sind. Lehnen wir uns dann selbstgefällig zurück und fühlen uns unschuldig? Gleichen wir Pharisäern, getreu dem Motto: „Jetzt haben wir ein Problem weniger“? Oder trauern wir und weinen darüber?

Angesichts des schmerzenden und trauernden Herzens Jeremias in Kapitel 8 erscheint der erste Abschnitt in Kapitel 9 auf den ersten Blick völlig unverständlich. Plötzlich bezeichnete der Prophet das Volk als „Ehebrecher“ und „Rotte Treuloser“ und sprach davon, am liebsten das Volk zu verlassen und in die Wüste zu ziehen. Ein völlig anderer Ton. Ist das noch der gleiche Jeremia? Ja, denn in Vers 5 ist von „deiner Wohnung“ die Rede. Es ist also tatsächlich Jeremia, der hier redet. Der Unterschied ist, dass er in Kapitel 8,21-23 das Volk Gottes auf seinem Herzen trug, aber hier von deren Sünden redete. Dementsprechend waren seine Gefühle von Entrüstung über die Untreue Israels und der Schmach, die sie Gott zugefügt hatten, geprägt. Das Volk auf dem Herzen tragen heißt nie, über die Sünden des Volks einfach hinwegzugehen.

 

 



[1]    Jeremia 7,13.25; 11,7; 25.3.4; 26,5; 29,19; 32,33; 35,14.15; 44,4 = 11x im Buch Jeremia, dazu noch in 2. Chronika 36,15
[2]    Leider kann man dies nicht so direkt an der Kapiteleinteilung des Buches Jeremia erkennen, da die Kapitelfolge nicht immer der zeitlichen Reihenfolge entspricht.