Themenheft

Freiheit vom Gesetz – wie ist das möglich?

Wenn man diese Überschrift bloß flüchtig betrachtet, könnte man meinen, in diesem Artikel ginge es darum, frei vom Gesetz, also gesetzlos zu sein bzw. zu leben – und das kann ja für einen Nachfolger Jesu niemals der Lebensmaßstab sein. Tatsächlich geht es in diesem Text aber darum, dass wir als Gläubige der Gnadenzeit frei von der Knechtschaft des Gesetzes vom Sinai leben.

 

Liest man die biblischen Texte zu diesem Themenkreis (vor allem Kapitel aus dem Römer- und dem Galaterbrief), könnte man den Eindruck gewinnen, dass diese Problematik lediglich für Gläubige aus dem Volk der Juden von Bedeutung sei. Was haben wir – als Gläubige aus den Nationen – schon mit dem Gesetz vom Sinai zu tun? Wir werden jedoch sehen, dass wir auch als Christen des 21. Jahrhunderts mehr mit dem Gesetz zu tun haben, als uns vielleicht bewusst ist.

Ein „Ausflug“ in die Wüste

Vor ca. 3500 Jahren gab Gott seinem Volk Israel am Sinai das Gesetz, indem Er seinem Knecht Mose nicht nur die „Zehn Gebote“, sondern viele weitere Gesetze anvertraute, die die Beziehung zu Ihm selbst, aber auch der Israeliten untereinander regelten. All diese Gebote standen, ja, das ganze Gesetz von Sinai stand unter der Überschrift: „Tu dies und du wirst leben“ (3. Mo 18,5; Röm 10,5; Gal 3,12).

Doch nur allzu schnell – nämlich noch bevor Mose das erste Mal mit den steinernen Gesetzestafeln wieder vom Berg herabstieg – hatte das Volk Israel gewissermaßen bereits das erste Gebot gebrochen und sich einen Götzen errichtet. In der weiteren Geschichte des Volkes zeigte sich dann jahrein, jahraus, dass keine Generation von Israeliten in der Lage war, das Gesetz in allem zu halten und somit Gottes gerechte Anforderungen an ein Ihm wohlgefälliges Leben zu erfüllen.

Ein Gesetz, das niemand vollständig einhalten kann?! Wozu das Ganze?

Eine durchaus berechtigte Frage ist, was ein Gesetz für einen Sinn hat, das niemand vollständig halten kann. Schließlich käme heutzutage keine Regierung darauf, ein Gesetz zu erlassen, bei dem von vornherein feststeht, dass sich kein einziger Bürger eines Landes vollständig daran halten kann … Doch Gottes Gedanken sind viel höher als menschliche Überlegungen – daher finden wir im Neuen Testament gleich mehrere Aspekte, die uns den Zweck und den Nutzen des Gesetzes verdeutlichen:

  1. „Das Gesetz ist heilig und das Gebot ist heilig und gerecht und gut“ (Röm 7,12).
  2. „Durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“ (Röm 3,20; 7,7).
  3. „Das Gesetz kam daneben ein, damit die Übertretung überströmend würde“ (Röm 5,20).
  4. „Das Gesetz ist unser Erzieher gewesen auf Christus hin“ (Gal 3,24).
  5. „Damit er die, die unter Gesetz waren, loskaufte, damit wir die Sohnschaft empfingen“ (Gal 4,5).

Zunächst einmal müssen und wollen wir festhalten, dass das Gesetz als solches nicht „zwecklos“ oder gar „schlecht“ ist. Ganz im Gegenteil, die aufgeführten Bibelstellen stellen heraus, welches Ziel Gott mit dem Gesetz vom Sinai verfolgte: Vor dem Hintergrund des göttlichen Maßstabes für ein heiliges, Gott wohlgefälliges Leben wird jeder Mensch als Sünder überführt, der niemals durch das Halten der Gebote die Herrlichkeit Gottes erreichen kann. In diesem Sinne war das Gesetz auch der Erzieher (oder „Zuchtmeister“), unter dessen strengen Anforderungen die ganze Gefangenschaft unter dem Fluch des Gesetzes (Tod als Folge der Gesetzesübertretung) deutlich wird. Dies gilt in erster Linie für das Volk Israel. Aber auch an uns als Gläubige aus den Nationen richten sich diese Worte, und wir tun sicherlich gut daran, uns immer neu ins Bewusstsein zu rufen, wie verdorben wir von Natur aus sind. Dazu noch ein Satz zum Nachdenken: „Wenn unser Gewissen stärker der gerechten […] Verurteilung durch das Gesetz ausgesetzt gewesen wäre, könnten wir viel tiefer empfinden, welch große Befreiung uns durch das Kommen des Sohnes Gottes zuteil geworden ist.“ (F. B. Hole: Grundzüge des NT, Bd. 4, S. 37)

„Christus ist das Ende des Gesetzes“ (Röm 10,4)

Dieser Satz leuchtet nun demjenigen entgegen, der unter dem Fluch des Gesetzes und im Bewusstsein seiner eigenen Verdorbenheit ächzt: Die Zeit, in der das Gesetz das von Gott gebotene Mittel war, um Gerechtigkeit zu erlangen (ein unmögliches Unterfangen, wie wir gesehen haben), ist vorbei: Christus ist gekommen und hat Tod und Gericht als Folge dessen, was das Gesetz gerechterweise über uns hätte bringen müssen, auf sich genommen. Dies deutet auch Galater 4,5 an: „… damit er die, die unter Gesetz waren, loskaufte.“ Loskaufen – eine wunderbare Tatsache!

Zwei „Geräusche“ verbinde ich mit diesem „Loskaufen“: Das Klimpern der Silbermünzen, durch die der Kaufpreis für den Sklaven bezahlt wird, und das Klirren der Ketten, die nach jahrelanger Knechtschaft zu Boden fallen und den ehemaligen Sklaven in die Freiheit entlassen. Dieses Bild aus der Antike lässt sich leicht auf unsere Bekehrung übertragen, das heißt auf den Zeitpunkt, als wir die Befreiung von unserer Sündenschuld erfahren haben (s. Artikel „…“ auf Seite XX). Das ständige Bewusstsein dieser Befreiung ist auch für unser Leben als Nachfolger des Herrn Jesus wichtig.

„Der Gerechte wird aus Glauben leben“ (Gal 3,11)

Gerade im Brief an die Galater, die sich fälschlicherweise auf das Gesetz gestützt hatten, liegt der Schwerpunkt dieses im Neuen Testament mehrfach zitierten Verses aus dem Buch Habakuk auf den Worten „aus Glauben“. Darin liegt das Geheimnis der Freiheit vom Gesetz – ein tägliches Leben aus Glauben. Paulus drückt es in Galater 2,19.20 sehr schön und mit persönlicher Beteiligung aus: „Ich bin […] dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe; […] nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt lebe im Fleisch, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat.“ Zunächst gilt es, diese Tatsache im Glauben anzunehmen: „Ich bin dem Gesetz gestorben.“ Paulus führt diesen wichtigen Punkt in Römer 7 näher aus und macht deutlich, dass jeder, der an den Herrn Jesus glaubt, mit Ihm gestorben ist – und damit auch dem Gesetz und dessen gerechten Anforderungen. Wir sind „von dem Gesetz losgemacht“ (Röm 7,6) und müssen gar nicht mehr versuchen, es zu halten; stattdessen lebt Christus jetzt in mir und darin liegt die Kraftquelle für ein Leben zu Gottes Ehre. Zugleich brauchen wir eine Person außerhalb von uns, auf die wir unser ganzes Vertrauen setzen: Es ist dieselbe Person, die in uns wohnt – der Sohn Gottes. Sich Ihm täglich im Glauben anzuvertrauen – das ist das Geheimnis und zugleich die Herausforderung für dich und mich.

Was das konkret heißt, soll an einem Beispiel erläutert werden:

In der Klassen-WhatsApp-Gruppe wird ein Video geteilt, von dem ich genau weiß, dass es wahrscheinlich einen schmutzigen Inhalt hat: Entweder kann ich aus eigener Kraft versuchen, „das Gesetz zu halten“ und mir den Clip nicht anzuschauen[1] (sehr wahrscheinlich „gewinnt“ mein sündiges Fleisch und irgendwann schaue ich mir den Film doch an – und sei es nur, um später mitreden zu können). ODER ich erinnere mich daran, dass ich (also mein alter, sündiger Mensch) gar nicht mehr lebe, sondern dass jetzt Christus in mir lebt – Er würde niemals solch einen Clip anschauen und Er gibt mir die Kraft, ohne größeres Zucken im Finger, auf „Löschen“ zu tippen …

Gesetz(lichkeit) in meinem Leben?

Manchmal hört man den Gedanken, dass das Gesetz als „Lebensregel des Christen“ durchaus nützlich oder sogar notwendig sei; man tue also gut daran, wenn man sich an die Zehn Gebote hält, usw. Wir haben jedoch bereits gesehen, dass wir als Christen in eine völlig neue Stellung versetzt worden sind: Unser Leben und auch unsere praktische Lebensführung gründet sich auf die Gnade (vgl. Röm 6,14)! Gerade weil wir nicht unter dem Gesetz sind, muss die Sünde nicht mehr über uns herrschen; wir dienen und gehorchen jetzt unserem Herrn und Erlöser. Er ist unser Vorbild, auf Ihn sind wir innerlich ausgerichtet. Das gibt uns Kraft – im Gegensatz zu den vielen „Verbotsschildern“ des Gesetzes, die letztlich sogar unsere fleischlichen Begierden anregen (vgl. Röm 7,7-11).

Noch ein „Nachgedanke“ zum Ende dieses Artikels: Es ist sicherlich gut, wenn wir in dem einen oder anderen Bereich unseres (Glaubens-)Lebens gute Gewohnheiten haben. Dennoch wollen wir zum einen vorsichtig sein, damit unsere Praxis nicht in immer tiefere „Spurrillen“ hineingerät und wir womöglich nur noch eingeschränkt auf das freie Wirken des Geistes Gottes in unserem Leben reagieren können (vgl. 2. Kor 3,17: „Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“). Zum anderen darf es niemals so weit kommen, dass wir bestimmte Bereiche unseres Glaubenslebens, in denen uns Gottes Wort Freiheit lässt, für uns und andere zu einem Gesetz machen. Wenn ich zum Beispiel meine, mindestens einmal die Woche evangelistische Flyer verteilen zu müssen, habe ich mir ein Gebot auferlegt. Denn wenn ich es nicht schaffe, fühle ich mich schlecht: Ich bin kein guter Christ. Wenn ich dann noch mein Gebot anderen Gläubigen auferlege und von ihnen dasselbe oder Ähnliches erwarte, stelle ich mich über meine Glaubensgeschwister. Solch ein gesetzlicher Geist würde unseren Herrn und Befreier verunehren und die Beziehungen unter Gläubigen massiv zerstören.

„Für die Freiheit hat Christus euch frei gemacht“ (Gal. 5,1)

Das heißt – besonders im Zusammenhang des Galater-Briefes und dieses kurzen Artikels – Freiheit vom Gesetz. Der Fluch des Gesetzes ist durch das Werk des Herrn Jesus für den Gläubigen abgewendet und zugleich ist der Erlöste auch frei vom Gesetz als Lebensregel, weil er für das Gesetz ein Toter ist. Aber für unseren Herrn Jesus Christus sind wir Lebende. Ihm wollen wir leben und dienen – bis Er kommt. Das ist wirkliche Freiheit!

 

Von Freiheit will ich singen,
da Er mich freigemacht;
Ihm Dank und Ehre bringen:   
Er hat's für mich vollbracht!
Und was ich nun noch lebe,
es sei für Ihn allein,
dem ich mich ganz ergebe,
recht frei in Ihm zu sein.

(Verfasser unbekannt)

 

„Das Gesetz mag das Gewissen quälen, aber die Gnade demütigt uns.“ (J.N. Darby)


[1] Übrigens: Gottes Wille ist unsere Heiligkeit (1. Thes 4,3) – ein unveränderlicher Maßstab.