Jesus Christus

Ein Lamm von wilden Tieren umzingelt

Psalm 22 beschreibt in eindrücklicher Weise, wie der Herr Jesus am Kreuz von bösen Menschen umgeben war, die sich Ihm gegenüber wie wilde Tiere verhielten.

Kannst du dir vorstellen, wie viel Schaden und Verwüstung ein einzelner Wolf in einer Schafherde anrichtet? Kannst du dir umgekehrt vorstellen, welche Verzweiflung und Panik ein einzelnes Schaf verspürt, das von einem ganzen Rudel Wölfe umzingelt wird?

 

Psalm 22 enthält ähnliche Bilder, wenn in poetischer Sprache böse Personen beschrieben werden, die den Herrn Jesus am Kreuz wie wilde Tiere umzingelt haben. Zwar hat David diesen Psalm geschrieben, jedoch schildert er nicht seine persönliche Erfahrungen, sondern spricht prophetisch von den unvergleichlichen Empfindungen Christi auf Golgatha. [1]Dabei ist das Hauptthema dieses einzigartigen Psalms das schmerzhafte Verlassensein von Gott und die sühnenden Leiden des sterbenden Heilands in den drei Stunden der Finsternis am Kreuz. Neben den Leiden von Seiten eines heiligen Gottes finden wir in etlichen Versen auch die Leiden von Seiten der bösen Menschen, die um das Kreuz des Herrn versammelt waren und Ihm große Schmerzen zufügten.

 Seine Freunde waren geflohen, der Herr hatte kaum noch Unterstützer an seiner Seite (Vers 12: „Kein Helfer ist da!“). Stattdessen lesen wir von verschiedenen Personengruppen, die den Herrn Jesus wie wilde Tiere umzingelt haben. Ja, das sanftmütige Lamm Gottes war auf Golgatha von bestialischen Menschen umgegeben, die sich an seiner Qual weideten.

 

1. Umringt von gewaltigen Stieren

 „Viele Stiere haben mich umgeben, gewaltige Stiere von Basan mich umringt. Sie haben ihr Maul gegen mich aufgesperrt wie ein reißender und brüllender Löwe“ (Verse 13 und 14).

 Als erstes werden gewaltige Stiere erwähnt, ein Bild für die Obersten der Juden, die ihren ganzen Einfluss einsetzten, um den Herrn Jesus zu Tode zu bringen. Das Weideland in Basan östlich vom Jordan war sehr fruchtbar (vgl. 4. Mo 32), so dass die dortigen Stiere besonders kräftig und energisch waren (vgl. Hes 39,18). Wie gereizte Stiere in rasender, blinder Wut rannten die Hohenpriester, Ältesten und Schriftgelehrten in ihrem fanatischen Hass gegen den Herrn Jesus an.

 Das aufgesperrte Maul ist ein Hinweis auf die verbalen Angriffe, die die Obersten der Juden gegen den Herrn Jesus vorbrachten. Immer wieder verspotteten sie den am Kreuz hängenden Heiland und zogen besonders seine Allmacht ins Lächerliche, weil Er sich selbst scheinbar nicht aus der misslichen Lage befreien konnte: „Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten“ (Mk 15,31). Die Erwähnung des reißenden und brüllenden Löwen deutet an, dass die Ältesten der Juden in ihrem Spott und Hohn von Satan angestachelt wurden.

 

2. Umgeben von Hunden

 „Denn Hunde haben mich umgeben, eine Rotte von Übeltätern hat mich umzingelt. Sie haben meine Hände und meine Füße durchgraben“ (Vers 17).

 Als zweites werden Hunde erwähnt, die in der Bibel häufig für Menschen aus den Nationen stehen (vgl. Mt 15,24 ff.) und für den Juden als unreine Tiere galten. Konkret sind hier die römischen Soldaten gemeint, die unter dem Kreuz standen und sich – genauso wie die Juden – am Tod des Herrn Jesus schuldig machten. Sie fügten dem Herrn Jesus besonders körperliche Schmerzen zu: Zunächst geißelten sie Jesus während der nächtlichen Verhöre und schlugen Ihm auf die Dornenkrone, auf Golgatha nagelten sie den Herrn der Herrlichkeit mit Händen und Füßen an das Kreuz: „Sie haben meine Hände und meine Füße durchgraben.“  Die segnenden Hände, die viele Jahre lang zum Wohl der Menschen tätig gewesen waren, wurden jetzt von grausamen Soldaten „durchgraben“.

 

3. Im Rachen des Löwen

 „Rette mich aus dem Rachen des Löwen!“ (Vers 22a)

 Das nächste wilde Tier ist der Löwe (Einzahl!), hiermit ist Satan selbst gemeint (1. Pet 5,8). Satan hatte die Macht des Todes und benutzte diese seit jeher, um die Gläubigen in ihrem Glauben einzuschüchtern (Heb 2,14). Auch den Menschen Jesus Christus wollte Satan durch eine Todesdrohung – davon spricht der Rachen des Löwen (vgl. 2. Tim 4,17) – am Kreuz peinigen. Angesichts dieser Drohung ist Christus nicht abgewichen, Er hat auch in seinem Sterben sein Vertrauen in wunderbarer Weise auf Gott gesetzt – auch davon spricht Psalm 22.

 An dieser Stelle erinnere ich noch einmal an den eigentlichen Hauptgedanken des Psalms: die sühnenden Leiden von Seiten eines heiligen Gottes. F. Wallace schreibt dazu: „Der Hass der Juden, die Grausamkeit der Nationen und die Macht Satans hatten sich miteinander gegen den Herrn Jesus vereinigt. Doch damit war der Kelch der Leiden für den Erlöser noch nicht voll. Um das Werk der Versöhnung zu vollbringen, musste Er noch eine vierte Art von Leiden erdulden: das Verlassensein von Gott.“[2] Die Anwesenheit der wütenden, wilden Tiere während der ersten drei Stunden des Herrn am Kreuz verursachte dem Lamm Gottes große Schmerzen, aber die Abwesenheit eines heiligen Gottes im Gericht in den zweiten drei Stunden fügte Ihm unvergleichlich schlimmere Leiden zu.

 

4. Erhört von den Hörnern der Büffel

 „Ja, du hast mich erhört von den Hörnern der Büffel“ (Vers 22b).

 Vers 22 beschreibt die große Wende in diesem Psalm: Haben wir soeben im ersten Teil des Verses noch den Schrei unseres Heilands nach Rettung in seinem Tod vernommen, so hören wir im zweiten Teil dieses Verses rückblickend den freudigen Ausruf, dass Gott Ihn erhört hat – und zwar durch die Auferweckung. Jetzt sind Feindschaft, Vernichtung und Leiden vorüber, die restlichen Verse des Psalms beschreiben Lobpreis, Jubel und Segen.

 In dem zitierten triumphalen Ausruf des auferstandenen Heilands werden als letztes Tier in diesem Psalm die Büffel (oder Wildochsen) genannt. Die Erklärung dieses Bildes ist nicht so einfach wie bei den ersten drei Wildtieren.

Vielleicht kann man in den „Hörnern der Büffel“ einen eher allgemeinen, symbolischen Ausdruck für die Macht des Todes und das äußerste Leid im Sterben. Mit den Hörnern versetzen Büffel den tödlichen Stoß und spießen ihr Opfer auf. Die Erhörung von den Hörnern der Büffel geschah dadurch, dass der Herr Jesus durch die Auferstehung aus der Macht des Todes herausgenommen wurde. Gott hat seine Bitte um Rettung erhört, Er hat sein Leiden beendet und hat Ihn nach vollbrachtem Erlösungswerk wegen seiner Frömmigkeit auferweckt und verherrlicht (Heb 5,7).

 

Szenenwechsel: Das Lamm Gottes umgeben von Gläubigen

Wie herrlich, dass es in der Zukunft eine gegensätzliche Szene im Himmel geben wird: Das Lamm, das damals am Kreuz von feindlichen Menschen umzingelt war, wird am himmlischen Thron von uns Erlösten umgeben sein. Statt Spott und Gewalt werden Ihm Lob und Anbetung gebracht werden (Offenbarung 5).

 

Allerdings gibt es heute schon einen Vorgeschmack auf diese zukünftige Herrlichkeit: Wenn wir uns sonntags zum Herrn Jesus hin versammeln, um sein Gedächtnismahl zu begehen, ist Er der Mittelpunkt. Wir umgeben Ihn und sehen Ihn mit Augen der Bewunderung und Anbetung an. Das sind ganz andere Augen und ganz andere Beweggründe, als sie damals auf die feindlichen Menschen zutrafen (vgl. Psalm 22,18). Wir bewundern „das Lamm wie geschlachtet“ dafür, dass es im Gericht Gottes und durch die Grausamkeiten der wilden Tiere so unsagbar leiden musste. „Würdig ist das Lamm“!

 

 



[1] Der Hinweis auf den Ausspruch des Herrn in den drei Stunden der Finsternis (V. 2) sowie zahlreiche Bezüge auf das Kreuz sind ein Hinweis darauf, dass David hier nicht von eigenen Erfahrungen spricht, sondern eine rein prophetisches Wort aufzeichnen sollte, was die Gedanken, Empfindungen und Worte unseres Herrn am Kreuz wiedergeben. David konnte das, was er hier ausdrücken durfte, nicht erfassen (vgl. dazu 2. Sam 23,2 und 1. Pet 1,12). So kann man von einem rein messianischen Psalm sprechen.
[2] Frank Wallace: „Der leidende Erlöser“ in der Zeitschrift Halte fest, Jahrgang 1996, S. 149