Lebensbeschreibung

Martin Luther (12) - Martin Luther als Hirte und Seelsorger

Martin Luther als Seelsorger – eine Vorstellung, die uns geläufig ist? Eher nicht. Wir nehmen Martin Luther eher als großen Reformator wahr, als den Streiter für die Wahrheit, als Lehrer von Gottes Wort und kaum als einfühlsamen Seelsorger, der sich um die Herde bemüht.

Doch es gibt auch eine andere Seite an Luther. Er selbst war durchaus ein sensibler Mann, der beispielsweise viele Anfechtungen kannte. Er kannte die Verdorbenheit seines eigenen Herzens nur zu gut. Auch war er in seiner eigenen Familie mit tiefer Not konfrontiert worden, wenn wir an den Tod zweier seiner Kinder denken. Dazu hatte er zeitlebens mit Schwermut zu kämpfen. Verbunden mit den geistlichen Auseinandersetzungen der Reformation formte dies Luther zu einem Mann, der in Gottes Wort gegründet war, der aber auch wusste, dass der Mensch sowohl Trost braucht als auch der Anfechtung widerstehen muss. Wie ein Autor[1] schreibt, wurden „Trost“ und „Trotz“ zu den beiden Brennpunkten seiner Seelsorge. Einige Beispiele aus Luthers „Hirtenpraxis“ sollen dies veranschaulichen.

Trost in Gewissensnöten

Das folgende Schreiben Luthers (1543) geht an die Frau eines Bürgermeisters, der ein Fluch „entschlüpft“ war, was ihr nun große Gewissensnot machte. Sie befürchtet nun für immer dem Teufel zu gehören.

„Gottes Gnad und Friede im Herrn! Meine Liebe Frau M.! Es hat mir Euer Bruder Johannes angezeigt, wie der böse Geist Euer Herz damit beschwert, dass ein solch böses Wort aus Eurem Munde gegangen ist: ,Ich wollt, dass der Teufel alle die holet, so dazu geraten haben, dass mein Mann ist Bürgermeister worden.‘ Darum er Euch plagt und eingibt, als müsstet Ihr sein ewiglich bleiben, so sollt Ihr wissen, dass alles, was er eingibt, erlogen ist. Denn er ist ein Lügner. Denn gewisslich ist’s nicht von Jesu Christo eingegeben, dass Ihr solltet des Teufels sein, sintemal[2] er darum gestorben ist, dass die, so des Teufels sind, von ihm loswerden sollen. Darum tut also: Speiet den Teufel an und sprechet: Habe ich gesündigt, ei, so habe ich gesündigt, und ist mir leid, Christus hat alle Sünde weggenommen der ganzen Welt, so sie dieselbe bekennen; so ist gewiss diese meine Sünde auch weggenommen. Hebe dich, Teufel, ich bin absolvieret[3] … das bin ich schuldig zu glauben.  …

Meine M., du musst nicht Deinen Gedanken, noch des Teufels Gedanken glauben, … Darum sei zufrieden und getrost, Dir ist Deine Sünde vergeben, da verlasse Dich kühnlich drauf und gehorche allem, was Deine Pfarrherr und Prediger sagen. Verachte ihr Wort und Trost nicht. Denn Gott selbst ist es, der durch sie mit Dir redet … Glaube das, so wird der Teufel aufhören. Oder spricht „Ich wollt ja gerne stärker glauben und weiß wohl, dass solches wahr und zu glauben ist. Ob ich’s nicht genug glaube, so weiß ich doch, dass es Wahrheit ist. Das heißt auch geglaubt zur Seligkeit. Christus, der liebe Herr, der für unsere Sünde gelitten hat, nicht für unsere Gerechtigkeit, tröste und stärke Dein Herz im rechten Glauben. Der Sünden halben hat’s kein Not. Amen.“[4]

Luthers Vorgehen hier ist erstaunlich:

  • Wenn der Teufel ihr ein schlechtes Gewissen eingibt, ist das gelogen, weil der Teufel ein Lügner ist. Gott will die Errettung und nicht die Verdammnis des Menschen. Die Gedanken, dass Gott mich verworfen hat, können aus depressivem Hintergrund entstehen und dann ist es im Umgang damit nötig, sie zurückzuweisen – und nicht etwa ihnen nachzugeben.
  • Luther verweist die Frau auf die Sündenvergebung. Sie ist real, auch wenn die Frau sie nicht fühlt. Er versucht sie von ihrem schwankenden Gefühlsboden auf den Felsengrund von Gottes Wort zu leiten.
  • Aber er geht auch auf den schwachen Glauben der Frau ein und macht deutlich, dass die Wahrheit des Wortes Gottes nicht davon anhängt, „wie stark wir daran glauben“.
  • Das heißt natürlich nicht, dass wir jeden Rat Luthers an dieser Stelle befolgen sollten. Wir sollen dem Teufel widerstehen (1. Pet 5,9), aber wir sollen ihn weder anspucken noch ansprechen. Wir beten zu unserem Gott, zum Herrn Jesus.

Trotz bei Anfechtung

Luther will Menschen nicht nur trösten durch seinen Zuspruch und den Hinweis auf die Verheißungen Gottes. Er ruft sie auch zum Widerstand auf, wenn sie in Anfechtungen geraten. So schreibt er seinem Freund Jonas von Stockhausen, der von Selbstmordgedanken geplagt wurde, folgende Worte.

„Darum müsst Ihr ein Herz und Trotz fassen gegen Euch selbst und mit Zorn zu Euch selbst sprechen: „Nein, Gesell, wenn du noch so ungern lebst, so sollst du leben und musst mir leben.[5] Denn so will’s mein Gott, so will ich’s haben; hebt euch, ihr Teufelsgedanken, in den Abgrund der Hölle mit Sterben und Tod, hier habt ihr nichts zu schaffen.“[6]

Als Gegenmittel gegen den Teufel spielte für Luther die Musik eine wichtige Rolle:

„Ich litt einmal sehr an Anfechtungen in meinem Garten am Lavendelbaum; dort sang ich den Hymnus: Christus wir sollen loben schön. Andernfalls wäre ich dort zugrunde gegangen.“[7]

An einen Freund, der an depressiver Stimmung litt, schrieb Luther:

„Darum, wenn ihr traurig seid, und es will überhand nehmen, so sprecht: Auf! Ich muss meinem Herrn Christus ein Lied machen …, denn die Schrift lehrt mich, er höret gern fröhlichen Gesang und Saitenspiel. Und greift frisch in die Tasten und singet drein, bis die Gedanken vergehen, wie es David[8] und Elisa[9] taten. Kommt der Teufel und gibt euch eure Sorgen oder Gedanken ein, so wehrt euch frisch und sprecht: Aus, Teufel, ich muss jetzt meinem Herrn Christus singen und spielen.“

Eheseelsorge

Luther wusste, dass es auch in einer Ehe Anfechtungen und Durststrecken geben konnte. Was trägt dann? Nur die Sicht des Glaubens.

„Diese Frau hat mir Gott gegeben, bei der soll ich wohnen“, und eine Ehefrau kann sagen: „Diesen Mann hat mir Gott gegeben, bei dem soll ich in Bett- und Tischgemeinschaft wohnen.“

Gottes Gedanken über die Ehe sind entscheidend – auch außerhalb der Ehe:

„Denn wenn Du auf das geschlechtliche Zusammensein sehen willst und die Augen auf das äußere Beieinandersein richtest, so ist zwischen dem ehelichen Leben und dem Hurenleben gar kein Unterschied; sie sind sehr nahe beieinander und sehen einander fast gleich, nur dass dieser eine Ehefrau, jener eine Hure hat. Denn es ist dieselbe äußerliche Gestalt: Mann und Frau wohnen sowohl im ehelichen Leben als auch im Hurenleben beieinander.“

Mit „Hurenstand“ bezeichnet Luther das unverheiratete Zusammenleben von Mann und Frau. Das war für Luther nicht nur eine Geringschätzung der Ehe, sondern auch ihres „Gründers“, Gottes selbst.

Seelsorge am Krankenbett und angesichts des Todes

Wie Luther am Krankenbett in der Seelsorge tätig war, wissen wir auch nur aus entsprechenden Briefen Luthers. In einem Brief an Margarethe von Anhalt heißt es:

„Also sollen sich E.F.G[10]. auch getrost ergeben, es sei zum Leben, Kranksein oder Sterben, und nicht zweifeln, dass E.F.G. nicht Ihr selbst solches widerfährt, sondern dem, der E.F.G. samt uns durch sein Blut und Tod erworben hat, an den wir auch glauben und in solchem Glauben nicht sterben, sondern leben, auch nicht krank sind, ob wir gleich krank sind, sondern gesund sind in Christus, in welchem es alles gesund, frisch, lebendig und selig ist, was uns dünkt nach dem Fleisch krank, siech, tot und verloren zu sein.“

In diesem Zusammenhang gibt es noch eine interessante Begebenheit im Leben Luthers. Sein Freund Melanchthon war in Weimar mit schwerem Fieber erkrankt. Der Kurfürst Johann Friedrich ließ seinen eigenen Leibarzt und einen berühmten Arzt aus Erfurt kommen. Dennoch verschlechterte sich der Zustand Melanchthons. Am 23. Juli 1540 kam Luther nach Weimar und besuchte den todkranken Freund. Er war über dessen Anblick zutiefst erschüttert. Dann ging er zum Fenster und betete ernstlich. Er schreibt darüber in seiner drastischen Ausdrucksweise:

„Allda musste mir unser Herrgott herhalten, denn ich warf ihm den Sack vor die Tür und rieb ihm die Ohren[11] mit allen Verheißungen von der Erhörung des Gebets, die ich in der Heiligen Schrift erzählen wusste, dass er mich musste erhören, wo ich anders seinen Verheißungen trauen sollte.“

Danach nahm er Melanchthons Hand und vergewisserte ihm, er würde nicht sterben. Der Kranke begann ruhiger zu atmen. Etwas später bat er Luther, er möge ihn nicht aufhalten. Doch davon wollte Luther nichts wissen.

„Mitnichten. Du musst unserem Herrn Gott noch weiter dienen.“

Melanchthon wurde langsam wieder gesund und lebte und diente dem Volk Gottes noch 20 weitere Jahre. Luther war zutiefst überzeugt, dass er Melanchthon „ins Leben zurückgebetet“ habe. Sicher ist dieses Beispiel, wie die meisten Glaubenserfahrungen anderer, nicht zur Nachahmung empfohlen. Aber es gibt einen Einblick in das Glaubensleben des Reformators.

Luther selbst wusste durchaus, dass solche geistlichen Hilfen kein Automatismus waren, der Schmerz und Not sofort beseitigte. So schreibt er nach dem Tod seiner Tochter offen über das eigene Empfinden:

„Ich glaube, die Nachricht hat Dich erreicht, dass meine von Herzen geliebte Tochter Magdalene wiedergeboren ist zum ewigen Reich Christi.[12] Und obwohl ich und meine Frau froh und dankbar sein sollten über ihren so glücklichen Heimgang und ihr seliges Ende ... , so ist die Macht der Liebe so groß, dass wir es ohne Schluchzen und Wehklagen des Herzens, ja ohne großes Absterben nicht vermögen. Denn tief im Herzen haftet ihr Blick, die Worte und Gebärden der lebenden und sterbenden und so gehorsamen und sittsamen Tochter, dass nicht einmal der Tod Christi das ganz vertreiben kann, wie es doch sein sollte.“

Ja, Luther war nicht nur ein wichtiger Lehrer der Christenheit, sondern auch ein beeindruckender Hirte. Die eigenen Erfahrungen, seine stete Bindung an Gottes Wort und die Auseinandersetzung mit den Nöten seiner Zeit haben ihn in dieser Hinsicht geformt.

 

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[1] R. Sons in „Tinte, Thesen, Temperamente“
[2] weil, zumal
[3] freigesprochen
[4] Zitat nach Sons, s.o.
[5] Wir wissen, dass Gott uns nicht zu Selbstgesprächen und auch nicht zu Zorn gegen uns selbst aufruft. Was Luther letztlich sagt ist, dass wir uns Gottes Gedanken zu eigen machen, nicht dagegen die bösen Anfechtungen durch Satan.
[6] s.o.
[7] Alle folgenden Zitate sind nach dem Buch R. Sons, „Martin Luther als Seelsorger“ zitiert. Hier sind auch die Originalfundstellen angegeben
[8] 1 Samuel 16,23
[9] 2 Könige 3,15
[10] Euer Fürstliche Gnaden
[11] Keiner von uns sollte das zum Anlass nehmen, so mit Gott zu sprechen. Wir müssen immer bedenken, dass die für uns sehr krasse Sprache in der „krassen“ Zeit Luthers dem damaligen, normalen Sprachstil entsprach.
[12] Bei dieser Aussage müssen wir bedenken, dass in der Zeit Luthers die Unterscheidung zwischen Entrückung und Erscheinung Christi in seinem Reich nicht bekannt war. Luther war sich bewusst, dass wenn seine Tochter jetzt auch gestorben war, sie dennoch lebte und als Lebende einen Platz im Reich Christi haben würde.