Bibelstudium

Begegnung am Jakobsbrunnen (1) - Gedanken zu Johannes 4

Als der geschätzte Bibellehrer John Gifford Bellett in seinen letzten Tagen von einem Freund besucht wurde, prägte er den Ausspruch: „O, der Mann von Sichar!“ Von diesem Mann war Bellett sehr beeindruckt. Wer die Szene am Jakobsbrunnen näher betrachtet, dem geht sie zu Herzen. Wir wollen sie in zwei Folgen in kleinen Schritten auf uns wirken lassen.

 

Ein Muss für den Sohn Gottes

„Als nun der Herr erkannte, dass die Pharisäer gehört hatten, dass Jesus mehr Jünger mache und taufe als Johannes (obwohl Jesus selbst nicht taufte, sondern seine Jünger), verließ er Judäa und zog wieder nach Galiläa. Er musste aber durch Samaria ziehen“ (V. 1-4).

Der Herr Jesus hatte sich in Judäa aufgehalten. Seine Jünger tauften in dieser Zeit viele Personen, mehr noch als Johannes der Täufer. Für Johannes war das kein Problem, im Gegenteil – er freute sich, wenn Christus geehrt wurde (Kap. 3,27 ff.).

Aber weil einige der Pharisäer mitbekommen hatten, dass der Herr mehr Jünger taufte als Johannes, zog sich Jesus nach Galiläa zurück. Er wollte jeden Anschein einer Rivalität vermeiden. Außerdem hätte ein scheinbarer Gegensatz zu Johannes den Herrn Jesus als eine Art Parteiführer auf einer Stufe mit dem Täufer erscheinen lassen. Und das kam für Ihn niemals infrage.

So machte sich Jesus auf den Weg nach Galiläa. Wir lesen, dass Er „durch Samaria ziehen musste“. Inwiefern „musste“ Er das? Führte nicht der direkte Weg nach Galiläa durch Samaria? Richtig. Die strengen Juden jedoch wählten andere Strecken, wenn sie von Judäa nach Galiläa gingen. Sie verachteten die Samariter und vermieden jede Begegnung mit ihnen.[1]

Es gab also durchaus auch einen anderen Weg, um nach Galiläa zu gelangen, aber jetzt musste es so sein, der Sohn Gottes durch Samaria zog. Er kannte jeden Einzelnen in Samaria, auch eine ganz bestimmte Frau dort. Und Er wusste auch, wann und wo sie zu treffen war. Sie sollte, ja musste den Heiland der Welt kennenlernen.

 

Sohn Gottes und zugleich vollkommen Mensch

„Er kommt nun in eine Stadt Samarias, genannt Sichar, nahe bei dem Feld, das Jakob seinem Sohn Joseph gab. Es war aber dort eine Quelle Jakobs. Jesus nun, ermüdet von der Reise, setzte sich so an der Quelle nieder. Es war um die sechste Stunde. Da kommt eine Frau aus Samaria, um Wasser zu schöpfen. Jesus spricht zu ihr: Gib mir zu trinken! (Denn seine Jünger waren weggegangen in die Stadt, um Speise zu kaufen)“ (V. 5-8)

Wie schön ist diese Szene! Der Schöpfer der Welten, der ewige Sohn Gottes, ist Mensch geworden und „wohnt unter uns voller Gnade und Wahrheit“ (Kap. 1,14). Anstelle eines königlichen Status und hoher Würden sehen wir einen, der in Demut und wie ein Fremdling seinen Weg durch die Lande geht. Er reitet nicht, schon gar nicht in königlichem Aufzug und mit königlichem Gefolge, sondern Er geht zu Fuß. Er, der reich war, „wurde um unsertwillen arm, damit wir durch seine Armut reich würden“ (2. Kor 8,9). Wir sehen Ihn am Rande des Brunnens sitzen: ein erschöpfter und durstiger Mann. Er ist zugleich der ewige Gott, der Schöpfer des Weltalls, der „nicht ermüdet und nicht ermattet“ (Jes 40,28). Der, der jeden Wassertropfen im Universum geschaffen hat, leidet Durst in dieser Welt. – Unfassbar!

Da kommt eine Frau an den Brunnen. Auf sie hat der Sohn Gottes gewartet. Und Er spricht sie an – nicht unfreundlich oder ablehnend. Er bittet einfach: „Gib mir zu trinken.“ Zweifellos, Er ist durstig. Und der Brunnen ist tief; ohne Schöpfgefäß ist da nichts zu holen. Aber hätte Er nicht ein Wunder tun können, um seinen Durst zu löschen? – Für andere vollbrachte Er in der Tat viele Wunder; nirgends lesen wir jedoch, dass Er ein Wunder tat, um seine eigenen körperlichen Bedürfnisse zu stillen. Denkt der Herr hier überhaupt an seinen eigenen Durst? Er war von Gott gesandt, „damit die Welt durch ihn errettet werde“ (Kap. 3,17). Und in dieser Liebe bittet Er eine fremde Frau um etwas Wasser, um so ihr Vertrauen zu gewinnen.

 

Die Zuwendung des Sohnes Gottes

„Die samaritische Frau spricht nun zu ihm: Wie bittest du, der du ein Jude bist, von mir zu trinken, die ich eine samaritische Frau bin? (Denn die Juden verkehren nicht mit den Samaritern.) Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wenn du die Gabe Gottes kenntest und wüsstest, wer es ist, der zu dir spricht: Gib mir zu trinken, so hättest du ihn gebeten, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben“ (V. 9.10).

Was für eine Überraschung für diese Frau, dass ein Jude sie anspricht und sie um etwas zu trinken bittet. Die Frau sieht sofort, dass ihr Gegenüber ein Jude ist. Die Quaste, die die Juden vorschriftsgemäß an den Zipfeln ihrer Kleidung trugen (vgl. 4. Mo 15,38), machte das deutlich.

Die Antwort Jesu ist sehr bemerkenswert. Sie macht drei Dinge deutlich:

1.    Er will auf Gott als den Geber aufmerksam machen. – Das entsprach nicht unbedingt der Vorstellung der Frau. Gewiss kannte sie etwas vom Gesetz. Aber im Gesetz lernt man die Forderungen Gottes an den Menschen kennen. Jetzt zeigte sich dieser Gott in seinem Sohn als ein Gott der Liebe, der mehr gibt, als Menschen sich je vorstellen können.

2.    Er will die Frau neugierig machen: Sie soll Ihn selbst, den Sohn Gottes, kennenlernen. – Wer hätte ahnen können, dass der müde Wanderer der Sohn Gottes in Person war?

3.    Der Herr will nicht in erster Linie für sich etwas erbitten, sondern will der Frau etwas viel Besseres geben, als Er von ihr verlangt hat. – Mit dem „lebendigen Wasser“ weist Er nicht auf natürliches Wasser hin, sondern Er spricht von dem Heiligen Geist, von dem unfassbar großen Geschenk, das der Glaubende empfängt (vgl. Kap. 7,38.39).

 

Größer als Abraham

„Die Frau spricht zu Jesus: Herr, du hast kein Schöpfgefäß, und der Brunnen ist tief; woher hast du denn das lebendige Wasser? Du bist doch nicht größer als unser Vater Jakob, der uns den Brunnen gab, und er selbst trank daraus und seine Söhne und sein Vieh?“      (V. 11.12)

Die Unterhaltung zwischen dem Herrn und der samaritischen Frau ist einzigartig. Der Sohn Gottes, in Niedrigkeit und als bedürftiger Mensch auf der Reise, trifft eine Person, die nach etwas ganz anderem Verlangen hatte als Er. Sie mochte während der Unterhaltung keinen körperlichen Durst verspürt haben, aber ihre Seele litt Mangel. Wenn sie gewusst hätte, dass der „Heiland der Welt“ vor ihr saß, hätte sie Ihm alle ihre Anliegen vorgebracht.

Der namenlosen Frau ergeht es wie dem gelehrten Nikodemus: Beide begreifen nicht, dass der Herr in seinen Fragen und Antworten vom Natürlichen auf das Geistliche lenkt. Er spricht von „lebendigem Wasser“ – das klingt vielversprechend. Aber woher soll es kommen?

Die Gedanken der Frau kreisen nur um ihren Brunnen. Er geht auf Jakob zurück, auf den Stammvater des Volkes Israel. Daraus zu schöpfen, war ein besonderes Vorrecht. Ja, sie nennt sogar Jakob „unseren Vater“. Die großen Persönlichkeiten und Ereignisse aus den fünf Büchern Mose waren auch den Samaritern wichtig.

Und der jüdische Mann vor ihr – sollte er etwa größer sein als Jakob? Nein, das kann die Frau sich nicht vorstellen. Ihr religiöses Empfinden weist das zurück, zumal sie ihre jahrhundertealte Tradition wichtig nimmt. – Ähnlich ergeht es heute vielen Menschen: Sie halten menschliche Überlieferungen hoch und merken gar nicht, dass dadurch ihre Sicht nicht frei ist für die wahre Größe des Sohnes Gottes. „Wenn du wüsstest …“, sagte Jesus der Frau. Er ist nicht nur größer als Abraham und Jakob, Er ist der Größte und Herrlichste überhaupt!

 

Der Geist Gottes verbindet uns mit dem Himmel

„Jesus antwortete und sprach zu ihr: Jeden, der von diesem Wasser trinkt, wird wieder dürsten; wer irgend aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, den wird nicht dürsten in Ewigkeit; sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm eine Quelle Wassers werden, das ins ewige Leben quillt. Die Frau spricht zu ihm: Herr, gib mir dieses Wasser, damit mich nicht dürste und ich nicht mehr hierherkomme, um zu schöpfen“ (V. 13-15).

Das Gespräch Jesu mit der samaritischen Frau am Brunnen in Sichar fängt ganz einfach an: Er bittet sie, ihm etwas zu trinken zu geben. Doch als der Herr von „lebendigem Wasser“ spricht, das Er ihr geben kann, scheint die Unterhaltung schwierig zu werden. Die Frau hat das Irdische vor Augen: ihre religiösen Überlieferungen, ihre alltägliche Mühe und ihre natürlichen Grundbedürfnisse. Demgegenüber steht das Geistige und Ewige, von dem der Sohn Gottes spricht. Doch was meint Er genau?

Das Wasser aus dem Brunnen steht für das Irdische. Niemals kann es den Durst der menschlichen Seele stillen. Geld, Vergnügen und Karriere sowie Aufgaben, Pflichten und Beziehungen können zwar eine vorübergehende Befriedigung verschaffen, jedoch keine dauerhafte Zufriedenheit.

Das „lebendige Wasser“ dagegen hat eine ungeheure Wirkung im Leben eines Menschen. Zum einen wird man nie mehr Durst haben. Zum anderen ist es wie eine Fontäne, die das sprudelnde Wasser zurück zu ihrem Ursprung fließen lässt. Wenn der Mensch ewiges Leben empfängt (vgl. die Unterweisung des Herrn an Nikodemus) und dazu noch den Heiligen Geist („lebendiges Wasser“), dann findet die Seele ihre Heimat in der Beziehung mit Gott selbst im Himmel. Wer davon etwas kennt, ist ein glücklicher Mensch!

 

Ein Wort ans Gewissen

„Jesus spricht zu ihr: Geh hin, rufe deinen Mann und komm hierher! Die Frau antwortete und sprach zu ihm: Ich habe keinen Mann. Jesus spricht zu ihr: Du hast recht gesagt: Ich habe keinen Mann; denn fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann; hierin hast du die Wahrheit gesagt. Die Frau spricht zu ihm: Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist“ (V. 16-19).

Das Gespräch zwischen dem Herrn Jesus und der samaritischen Frau scheint zu scheitern. Das, was der Herr ihr so schmackhaft gemacht hat – diesen „unergründlichen Reichtum des Christus“ (vgl. Eph 3,8) –, rief zwar ein großes Verlangen in ihr wach, aber sie versteht es einfach nicht. Bricht der Herr das Gespräch jetzt ab? Nein! Auch wenn es an dieser Stelle zwecklos ist, das Thema fortzusetzen, so sieht der Herr doch, dass die Frau Vertrauen gewonnen hat und für göttlichen Segen empfänglich ist.

Deshalb lenkt der Herr das Gespräch nun in eine ganz andere Richtung. Als der allwissende Sohn Gottes kennt Er das ganze Leben der Samariterin. Und das verdient keine Anerkennung. Vielleicht ist das der Grund, warum sie die vorherigen Worte Jesu nicht richtig einordnen kann. Gern will sie den Segen Gottes erfahren, aber hat sie überhaupt Anspruch darauf? Hat sie eigentlich kein schlechtes Gewissen?

Die Frau lebt in einer Beziehung mit einem Mann, aber ohne „Trauschein“. Viele sehen darin kein Problem – heute weniger denn je. Aber bei Gott ist das Sünde. Der Herr sagt der Frau, dass sie fünf Männer gehabt habe. Wie auch immer es dazu gekommen sein mochte – der Herr kommentiert das nicht. Aber wie die Frau jetzt lebt, das ist nicht in Ordnung; das widerspricht Gottes Willen.

Jesus tritt hier als Prophet auf, und das nicht, weil Er der Frau die Zukunft voraussagt, sondern weil Er ihr ins Gewissen redet. – Fühlst du dich noch angesprochen, wenn die Bibel Sünden in deinem Leben aufdeckt? Denke daran: Es ist Gott selbst, der zu dir spricht (vgl. Heb 4,12.13). Es ist sein Wunsch, dass du die Sünden bekennst und unterlässt, damit du in glücklicher Gemeinschaft mit Ihm leben kannst.

 
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[1] Die Samariter erkannten nur die fünf Bücher Mose als Heilige Schrift an und verehrten Gott nicht in Jerusalem (wie die Juden), sondern auf dem Berg Gerisim.