Acht Visionen eines jungen Mannes

Für manche sind Sacharjas Nachtgesichte eine Quelle der Ermutigung geworden, insbesondere in Zeiten, die Schwierigkeiten für jegliches Zeugnis (von Christus und seiner Versammlung) mit sich bringen. Für andere sind diese Gesichte immer etwas unklar und geheimnisvoll geblieben. Dieser Artikel möchte der zweiten Gruppe helfen, und zwar auf folgende Art und Weise: Wir gehen davon aus, daß Sacharja und einige andere treue Juden durch eine Reihe von Fragen beunruhigt wurden, die sich aus ihrer Situation ergaben. Wir formulieren diese Fragen und zeigen, wie jede von ihnen durch eine bestimmte Vision (oder: „Gesicht") beantwortet wurde. Ferner werden wir zeigen, wie diese acht Visionen aufeinander aufbauen: Sie zeigen Schritt für Schritt den ganzen Weg, anfangend von der verzweifelten Situation der Juden zur Zeit Sacharjas, bis hin zur Erfüllung der Pläne Gottes in bezug auf Jerusalem und, was noch wichtiger ist, in bezug auf den Mann, dessen Name „Sproß" ist (6,12).

 

Abschließend wollen wir zeigen, daß viele Christen heute mit ganz ähnlichen Problemen zu tun haben.

Erste Vision (1,7-17)

Was waren die Schwierigkeiten in den Tagen Sacharjas, der übrigens noch ein junger Mann war (Kap. 2,4)? Der Thron Gottes stand nicht mehr in Jerusalem (vgl. 1. Chr 29,23). Statt dessen hatte das Persische Reich die Macht. Verhältnismäßig wenige Juden waren aus der babylonischen Gefangenschaft zurückgekehrt, und sogar diese wenigen hatten aufgehört, am Wiederaufbau des Hauses Gottes zu arbeiten. Sacharja lebte unter diesen armen, schwachen und unterdrückten Juden (dem „Überrest"; vgl. Esra 5,1). Sie hatten nur sehr wenig Rühmenswertes vorzuweisen, sie hatten keine sichtbaren Beweise der Macht oder Gegenwart Gottes, noch nicht einmal die Wolke der Herrlichkeit (vgl. 2. Mo 40,35)1. Diese kleine Skizze mag genügen, um zu zeigen, daß eine erste aufkommende Frage folgende gewesen sein muß:

- oder: Konstruktive Antworten auf ängstliche Fragen

Frage 1: Ist Gott eigentlich mit der gegenwärtigen Situation zufrieden, d. h. damit, daß die Heiden das Volk Gottes unterdrücken? Mit anderen Worten: Sollte Gott diese traurige Situation auf unbestimmte Zeit fortbestehen lassen?

Die erste Vision (1,7-17) liefert die Antwort.

Der Mann, der auf dem roten Pferd ritt, hielt zwischen den Myrten (V. 8) (die von Wiederherstellung reden: Nehemia 8,15; Jesaja 41,19; 55,13). Die Botschaft des Engels enthält die folgenden Kernelemente: Gott eifert für Jerusalem (V. 14) und zürnt über die „sicheren Nationen" mit sehr großem Zorn (V. 15). Vers 16 enthält die Verheißung, daß Er wieder Erbarmen haben wird, und insbesondere, daß sein Haus gebaut werden wird. Jerusalem wird erwählt werden (V. 17). Diese Worte des Engels beantworteten die erste Frage in einer Weise, die höchstwahrscheinlich die Erwartungen vieler übertraf.

Zweite Vision (1,18-21)

Wenn Gott nun in der ersten Vision verheißen hatte, daß Er wieder Erbarmen zeigen wollte, dann stellte sich unmittelbar die Frage:

Frage 2: Aber was ist mit den „Nationen"? Wie kann Jerusalem aus den Städten auserwählt sein, um von Wohlstand überzufließen (V. 17), wenn doch die heidnischen Weltmächte (zu der Zeit die Perser) dort sind und uns unterdrücken?

Die Vision der vier Hörner beantwortet diese Frage vollstandig. Wir können annehmen, daß diese vier Hörner die vier Weltmächte versinnbildlichen, die Israel besiegten und zum Teil schwer unterdrückten. Sie sind nämlich die, die „Juda ... zerstreut haben" (V. 21). Aber Sacharja sieht auch vier Werkleute (V. 20), die gekommen sind, „die Hörner der Nationen niederzuwerfen" (V. 21). Für jede Macht, die sich Israel (insbesondere Juda) in den Weg gestellt hat, wird Gott zu gegebener Zeit ein Instrument bereit haben, um diese Nation „niederzuwerfen"

Dritte Vision (2,1-13)

Frage 3: Aber was ist mit all den Ruinen hier? Wird Gott sich etwa für diese Steine und den Schutt (Ps 102,14) interessieren?

Die nächste Vision zeigt einen Mann und eine Meßschnur (V. 1). Der Mann beabsichtigt, „Jerusalem zu messen" (V. 2), d. h., es in Besitz zu nehmen. Das wird noch bekräftigt durch die Worte des Engels, der sagt, daß einmal eine solche Menschenmenge in Jerusalem wohnen wird, daß es keine Mauern haben kann, abgesehen von der Mauer aus Feuer um sie herum, die der HERR selbst sein wird (V. 4.5). Viele, die zur Zeit noch im „Land des Nordens" oder bei der „Tochter Babels" wohnen, werden gesammelt werden (V. 6.7) nach der Erscheinung des Herrn in Herrlichkeit (V. 8). Schließlich wird der HERR selbst zu ihnen kommen (V. 10) und in ihrer Mitte wohnen (V. 10.11). Er wird vorgestellt, als wenn Er seine Reise zu ihnen schon begonnen hätte: „Er hat sich aufgemacht..." (V.13). Dann wird der HERR Juda als Erbteil besitzen, und Jerusalem wird erwählt werden (V. 12).

Eine vollständigere Antwort konnte es kaum geben für ein Herz, das über den Zustand des Verfalls in Jerusalem beunruhigt war!

Vierte Vision (3,1-10)

Wir kommen jetzt von den praktischen Hindernissen (heidnische Herrschaft, eine Stadt in Ruinen, zahlenmäßige Schwachheit der wenigen Juden in Jerusalem) zu den eher moralischen Problemen. Jeder, der sich des moralischen Zustands des Volkes bewußt war, mußte sich fragen:

Frage 4: Wie kann das Land heilig sein (3,9)? Kann Gott das Land eines Volkes wiederherstellen, das doch verunreinigt und daher den Anklagen Satans ausgesetzt ist?

In bezug auf diese Problematik ist es natürlich äußerst passend, in der nächsten Vision den Hohenpriester Josua mit schmutzigen Kleidern bekleidet zu sehen (V. 3)2. Er steht vor dem HERRN (V. 1). Satan läßt sich diese Gelegenheit nicht entgehen und ist anwesend, um das Volk vor Gott zu verklagen (vgl. Offb 12,10). Aber die Botschaft des Engels lautet anders: „Und der Engel hob an und sprach zu denen, welche vor ihm standen, und sagte: Ziehet ihm die schmutzigen Kleider aus; und zu ihm sprach er: Siehe, ich habe deine Ungerechtigkeit von dir weggenommen, und ich kleide dich in Feierkleider" (V. 4). Die Ungerechtigkeit wird weggenommen, und Feierkleider werden geschenkt: Das ist die Antwort Gottes auf die Anklagen Satans gegen das Volk.

Fünfte Vision (4,1-14)

Wenn auch die Frage der Schuld des Volkes beantwortet ist, so bleibt doch das Problem seiner praktischen Schwachheit bestehen. Die Juden hatten keinen König, sondern nur einen Statthalter, nämlich Serubbabel (Esra 2,2 und Hag 1,1). Die königliche Autorität verblieb ganz bei dem Persischen Reich. Die beunruhigende Frage kommt daher auf:

Frage 5: Was ist mit unserer Schwachheit? Wie kann unter diesen Umständen überhaupt noch irgendein Zeugnis erhalten bleiben?

Die Antwort wird in Form einer Vision gegeben, in der ein Leuchter (V. 2) und zwei Olivenbäume (V. 3) vorkommen. Letztere stehen für Josua und Serubbabel, die zwei Führer des Volkes oder die „Söhne des Öls, welche bei dem Herrn der ganzen Erde stehen" (V. 14). Vers 6 enthält eine äußerst klare Botschaft an Serubbabel: „Nicht durch Macht und nicht durch Kraft, sondern durch meinen Geist, spricht der HERR der Heerscharen." Wenn auch der führende Mann unter dem Volk nur zu offensichtlich schwach war im Vergleich zu Königen usw.), so würde das doch Gott nicht daran hindern, seine Pläne auszuführen. Es war nicht eine Zeit äußerer Machterweisungen, sondern ein „Tag kleiner Dinge" (V. 10). Nur durch den Geist Gottes konnte ein Zeugnis aufrechterhalten werden. Serubbabel ist trotz seiner offensichtlichen Schwachheit derjenige, der auserwählt ist, das Werk weiterzuführen und abzuschließen: „Und er wird den Schlußstein herausbringen unter lautem Zuruf: Gnade, Gnade ihm!"

Sechste und siebte Vision (5,1-4 und 5,5-11)

Während die ersten fünf Visionen klare Bestätigungen dafür enthalten, daß Zion wiederhergestellt werden soll, behandeln die letzten drei etwas andere Fragen, die aber eine wichtige Ergänzung bilden. Die Visionen 6 und 7 haben, so muß man sagen, fast den Charakter einer Warnung. Ein Jude, der Sacharja von den ersten fünf Visionen berichten gehört hatte, konnte sich wohl fragen:

Fragen 6 und 7: Aber wird Gott denn Böses übersehen, das unter uns fortbesteht?

Obwohl Gott „die Ungerechtigkeit dieses Landes" an einem Tag wegnehmen würde (3,9), bedeutet dies nicht etwa, daß Böses einfach übersehen wird. Man darf nie Gnade „in Ausschweifung verkehren" (Jud 4; Röm 3,8; 6,1). Sacharja sieht daher „eine fliegende Rolle" (V. 2), die Fluch bringt (V. 3). Dieser Fluch würde über das Land kommen wegen des moralisch Bösen in bezug auf Gott (falsches Schwören) und in bezug auf Menschen (das Stehlen). Moralisch Böses in der einen oder anderen Form kann nur zur Zerstörung führen (wenn es nicht verurteilt wird).

Die siebte Vision zeigt eine Frau, die in einem Epha (ein Hohlmaß) saß (V. 7). Diese Frau verkörpert „die Gesetzlosigkeit" (V. 8). Das erinnert uns an ein System des Götzendienstes. Aber das religiös Böse kann genausowenig toleriert oder übersehen werden wie das moralisch Böse. Es wird aufgedeckt, wo die Ursprünge des Götzendienstes liegen, nämlich in Babylon (auch Sinear genannt, V. 11). So wie Störche (V. 9) die Eigenschaft haben, immer zu ihrem Nest zurückzukehren, wird der Götzendienst auf seine Quelle zurückgeführt. Gott übersieht also das Böse nicht, auch nicht im religiösen Bereich, sondern Er entlarvt es als das, was es ist (und richtet es).

Achte Vision (6,1-8)

Einem weiteren möglichen Mißverständnis wird in der abschließenden Vision vorgebeugt. Wenn Josua und Serubbabel von Gott als „die beiden Söhne des Ols, die bei dem Herrn der ganzen Erde stehen" angenommen werden, könnte die Frage aufkommen:

Frage 8: Sollen wir uns dann überhaupt noch weltlichen Mächten unterwerfen? Ist es nicht genug, daß wir die Führer respektieren, die Gott uns gegeben hat?

GOTT ERMUNTERT DIE, DIE IHM AUCH IN ZEITEN EINES ALLGEMEINEN VERFALLS TREU SEIN WOLLEN. ER HAT EINE ANTWORT AUF JEDE ÄNGSTLICHE FRAGE.

Besonders im Licht der fünften Vision mag ein solcher Gedanke vielen unter dem Volk gekommen sein. Wie attraktiv wäre es doch, das erniedrigende Joch der Nationen abzuschütteln! Aber die abschließende Vision wehrt diesen Gedanken entschieden ab. Sie stellt uns die Agenten (Geister, Winde, V. 5) vor, die hinter den Nationen stehen und die Gott benutzt, um die Nationen zu lenken. Diese können nicht einfach tun, was sie wollen, sondern sie gehen aus, „nachdem sie sich vor den Herrn der ganzen Erde gestellt haben" (V. 5b). Daher haben diese Mächte, jedenfalls noch, die Anerkennung Gottes in dem Sinn, daß sie als Autoritäten zu respektieren sind. Zum Teil hatten sie schon „den Geist des HERRN Ruhe finden lassen" (V.8), nämlich die, die nach Norden ausgezogen waren, d.h. nur die schwarzen Pferde aus Vers 6 (das babylonische Weltreich war nämlich schon gerichtet worden). Aber zunächst, d. h., bis sie Gottes Plan in jeder Einzelheit erfüllt haben, müssen sie ihren Lauf fortsetzen, ohne nach rechts oder nach links abzubiegen (V. 1).

Gott ermuntert die, die Ihm auch in Zeiten eines allgemeinen Verfalls treu sein wollen. Er hat eine Antwort auf jede ängstliche Frage. Darüber hinaus beugt Er möglichen Mißverständnissen vor. Auf diese Weise kann Sacharja nun zu der Szene kommen, die vielleicht den Höhepunkt des ganzen Buches (zumindest aber der ersten 6 Kapitel) bildet: ein Mensch, dessen Name Sproß ist, als König und Priester auf dem Thron. Die Verse 12 und 13 enthalten eine Aufzählung von Herrlichkeiten des Herrn Jesus. Der Ratschluß Gottes und die Wiederherstellung Zions finden ihren Mittelpunkt in diesem Mann: „Siehe, ein Mann, sein Name ist Sproß; und er wird von seiner Stelle aufsprossen; ... und er wird Herrlichkeit tragen; und er wird auf seinem Throne sitzen und herrschen, und er wird Priester sein auf seinem Throne; und der Rat des Friedens wird zwischen ihnen beiden sein" (6,12.13).

Heute noch von Bedeutung?

Abschließend möchten wir zeigen, daß die Gesichte Sacharjas auch heute nach fast 2500 Jahren noch von großer Bedeutung sind. Auch Gläubige, die eine viel engere Beziehung zu dem Herrn Jesus haben als Sacharja (nämlich die Versammlung, die Christus geliebt und für die Er sich selbst hingegeben hat - Eph 5,25), können doch aus diesen alten Nachtgesichten wichtige moralische Lektionen lernen.

Erstens können wir lernen, daß Gott zwar nicht immer sofort eingreift, wenn sein Volk unterdrückt wird, aber daß Er dennoch weit davon entfernt ist, gleichgültig darüber zu sein (vgl. 1. Vision). Genauso sicher ist es, daß Gott für jede entgegenstehende Macht das richtige Instrument zur Hand hat, um sie zu gegebener Zeit zurückzuschlagen oder zu richten (Vision 2). Darüber hinaus können wir sicher sein, daß Gott mit großem Interesse jede noch so schwache Anstrengung, ein Zeugnis für Ihn zu sein, wahrnimmt (Vision 3). Mit großer Aufmerksamkeit verfolgt Er die Geschehnisse in Jerusalem3. Der Herr kennt auch das Versagen (Vision 4) und die Schwachheit (Vision 5) seines Volkes und wird beidem begegnen, wenn es nicht verurteilt wird. Die Lösung liegt nicht in aufsehenerregenden Ereignissen, sondern darin, daß der Geist Gottes ungehindert wirken kann: „Nicht durch Macht und nicht durch Kraft, sondern durch meinen Geist ..." (4,6). Keinesfalls jedoch dürfen wir annehmen, daß Gott Böses ignoriert oder toleriert. Sei es Böses Menschen gegenüber (Vision 6) oder religiös Böses, also Böses Gott gegenüber (Vision 7): Er wird beides richten. Sodann sollten wir die Wege Gottes in seiner Vorsehung respektieren und uns bewußt sein, daß Er alles regiert und führt, auch wenn Er heute eher hinter der Szene agiert. Alles verläuft nach seinem Plan (Vision 8).

Wer diese moralischen Lektionen aus den Nachtgesichten Sacharjas lernt, wird besser ausgerüstet sein, sich mit dem zu beschäftigen, was Gott zu sagen hat über die verschiedenen Herrlichkeiten des Mannes Seiner Ratschlüsse (6,12.13).

... UND IHR WERDET ERKENNEN, DASS DER HERR DER HEERSCHAREN MICH ZU EUCH GESANDT HAT. (SACHARJA 6,14)

 

1 In dieser Hinsicht ist die Situation dieses „Überrestes" sehr aktuell: Auch wir haben heute keinen äußerlich erkennbaren Beweis der Gegenwart des Herrn, sondern können uns nur auf seine Verheißung stützen (Mt 18,20). Auch erwarten wir keine Wunder durch Zeichengaben (Reden in Sprachen, Heilungen usw.), die Gott für die Zeit des Anfangs der christlichen Epoche gegeben hatte (Mk 16,17.18 und Heb 2,4).

2 Wir sollten wohl kaum die Schlußfolgerung ziehen, daß Josua sich persönlich versündigt hatte. Vielmehr vertritt (repräsentiert) er als Hoherpriester das Volk. Das wird in Vers 9 ganz klar, wo es heißt, daß „die Ungerechtigkeit dieses Landes" (nicht dieses Mannes) weggenommen werden wird.

3 Jerusalem war der Platz, den Gott als Ort der Anbetung ausgewählt hatte. Dort würde Er seinen „Namen wohnen lassen" (5. Mose 12, 5.11.14.18.21.26). Die neutestamentliche Parallele dazu ist Matthäus 18,20: Der Herr verbindet Seine Gegenwart mit den zwei oder drei Gläubigen, die „zu Seinem Namen hin versammelt sind".