Bibelstudium

Jeremia, der weinende Prophet (5)

Das Buch Jeremia gehört zu den Büchern der Bibel, die nicht so häufig gelesen werden. Der Unterschied zu den meisten anderen prophetischen Büchern besteht darin, dass vergleichsweise viel über den Propheten selbst berichtet wird. Es stellt uns einen treuen Diener in einem schwierigen Umfeld vor. Wir wollen einige Schlaglichter auf Jeremia werfen und so sein Leben und seinen Dienst zu uns sprechen lassen.

 

Befragung Jeremias vor der Flucht nach Ägypten

Nachdem Jerusalem – wie Jeremia es zuvor angekündigt hatte – zerstört worden war, wurde Mizpa zur vorläufigen Hauptstadt. Gedalja wurde dort als Statthalter Babels eingesetzt. Gedalja war ein Enkel Schaphans, der zur Zeit Josias das Amt des Schreibers bekleidet hatte (Jer 40,5; 2. Chr 34,20). Ismael, ein königlicher Beamter und aus königlichem Geschlecht (Jer 41,1), plante im Auftrag des Königs von Ammon ein Attentat auf Gedalja. Jochanan, einer der Heerobersten, hatte Wind von dem geplanten Putsch bekommen und informierte Gedalja darüber. Gedalja war aber offensichtlich gegenüber Ismael etwas naiv und glaubte der Warnung Jochanans nicht. So konnte Ismael Gedalja ermorden und alle Juden erschlagen, die bei Gedalja waren, sowie die chaldäische Besatzungstruppe in Mizpa. Die überlebenden Juden fürchteten nach diesen Vorkommnissen einen Racheakt Babylons und machten sich auf, um nach Ägypten zu fliehen.

Nachdem die Gruppe von Flüchtlingen schon ein Stück weit gezogen war, beschloss man, durch Jeremia Gott zu befragen (Jer 42,2.3). Die eigentliche Entscheidung, nach Ägypten zu ziehen, war dabei längst gefallen (Kap. 41,17); offenbar wollte man von Jeremia nur noch eine Bestätigung einholen. Es war eine rein formale Befragung Gottes, ohne dass man den Willen Gottes wirklich kennenlernen wollte. Trotzdem gelobten die Juden, ausschließlich auf Gott hören zu wollen (Kap. 42,5.6). – Kennen wir das nicht auch? Unsere Pläne sind gefasst, die Entscheidung ist eigentlich schon gefallen, aber halt – da fehlt doch noch was …! So wird pro forma noch Gott um Rat gefragt, und die Enttäuschung ist groß, wenn die Antwort nicht positiv ausfällt.

So war es bei den Juden hier auch. Zunächst ließ Gott sie lange auf eine Antwort warten, insgesamt zehn Tage (V. 7). Die Zahl 10 ist in der Schrift oft die Zahl der Verantwortung des Menschen vor Gott (vgl. zehn Gebote, zehn Plagen in Ägypten, zehn Pfunde, zehn Jungfrauen). Diese Frist war eine Prüfung von Gott, ob sie es mit der Befragung wirklich ernst meinten. Die Juden werden während der zehn Tage vermutlich ziemlich nervös geworden sein. Ihnen saß die Angst im Nacken, dass die Chaldäer kommen und Rache an ihnen nehmen würden. Aber diesen Teil der Prüfung Gottes hatten sie „bestanden“: Sie warteten tatsächlich auf die Antwort Gottes und zogen nicht einfach weiter. – Manchmal ist es schwer, ruhig zu bleiben, besonders dann, wenn es scheinbar dringend ist, auf die Antwort Gottes zu warten. Hier können wir von den Juden in der Tat etwas lernen.

Nach zehn Tagen gab Gott eine klare, aber wunderbare Antwort. Nach all den Gerichten, die Jeremia in der Vergangenheit meist hatte ankündigen müssen, war es diesmal eine Gnadenbotschaft (V. 10-12). Wunderbare Worte des Trostes richtete Gott an das leidende Volk und verhieß ihnen Rettung, Befreiung und Barmherzigkeit, sofern sie im Land bleiben würden. Aber Gott kannte ihre Herzen. So warnte Er sie eindringlich davor, nach Ägypten zu ziehen (V. 13-17). Der Krieg und der Tod, denen sie durch die Flucht zu entrinnen versuchten, würden sie dort einholen. Interessant sind besonders die Verse 18-22, in denen Gott quasi die Entscheidung der Juden vorwegnimmt. Sie würden nicht auf die klare Botschaft Gottes hören (V. 20-22). Wie frustrierend muss es für Jeremia gewesen sein, im Voraus zu wissen, dass die Juden ihm wieder einmal nicht glauben würden.

Die Antwort der Juden ist erschreckend: In Kapitel 43,1-7 lesen wir, wie die Worte Gottes von ihnen vollkommen abgelehnt wurden. Sie bezeichneten den treuen Boten Jeremia als einen von Dritten aufgehetzten Lügenpropheten (V. 2.3), verwarfen die Botschaft Gottes und führten den Zug nach Ägypten fort. Dort angekommen musste Jeremia schließlich noch dem Volk die Eroberung Ägyptens durch Nebukadnezar ankündigen.

 

Die letzte Warnung Jeremias

In Kapitel 44 wandte sich Gott ein letztes Mal durch seinen Propheten an das Volk. Der Grund war, dass die Juden in Ägypten rasch zum Götzendienst zurückgekehrt waren. Damit hatten sie sich in Ägypten dem dortigen Lebensstil angepasst und ihre Identität als Volk Gottes aufgegeben. Das Böse erreichte nun einen neuen Höhepunkt: Gott wurde endgültig und vollständig verworfen und stattdessen die Himmelskönigin angebetet. Vermutlich ist unter der Himmelskönigin die kanaanäische Fruchtbarkeitsgöttin Astarte oder Ischtar, in der Bibel Astoret genannt, zu verstehen. Israel kehrte dadurch zu dem zurück, wovon Gott sie ca. 900 Jahre zuvor befreit hatte. Vor der Befreiung aus Ägypten hatten sie dort bereits den Götzen gedient (Jos 24,14). Ein schrecklicher Zustand!

Die Antwort der Juden auf die Botschaft Gottes ist an Frechheit kaum zu überbieten. Der von Jeremia geschilderte Sachverhalt, dass in der Geschichte des Volkes Gott auf Götzendienst immer mit Gericht geantwortet hatte, wurde von ihnen komplett herumgedreht. Die ganze Schuld für die unglückliche Situation, in der sie sich befanden, wurde darin gesehen, dass man die Anbetung der Himmelskönigin vernachlässigt habe, um dem Herrn zu dienen. Wie muss das Jeremia betroffen gemacht haben! Nun musste er den Juden in Ägypten die Vernichtung ankündigen (Kap. 44,27-30). Damit endete das Reden Gottes zu seinem Volk durch Jeremia.[1] Ein bedrückendes und erschütterndes Ende.

 

Die Treue Jeremias im Dienst

Wenn wir dieses traurige Ende lesen, stellt sich die Frage, warum Jeremia überhaupt im Land Israel bei dem Volk dort geblieben ist. Mit der Eroberung Jerusalems war das angekündigte Gericht eingetroffen. Nun breitete sich unter den von Nebukadnezar zurückgelassenen „Geringen“ ein neues Tätigkeitsfeld aus. Nebusaradan, der Oberste der Leibwache, ließ Jeremia die Wahl, ob er nach Babel mitkommen oder in Juda bleiben wollte (Jeremia 40,2-4). Ganz offensichtlich war man unter den Babyloniern über die Aussprüche Gottes, die Jeremia gegeben hatte, informiert.

Durch die Prophezeiungen Gottes wusste Jeremia, dass es schöner wäre, mit den Weggeführten nach Babel zu gehen. Mehr als 10 Jahre vor dem Fall Jerusalems hatte er von Gott die Prophezeiung mit den guten und den schlechten Feigen erhalten (Jeremia 24). Die „guten Feigen“ waren diejenigen, die nach Babylon weggeführt worden waren (V. 4-7); ihnen war verheißen, dass der Herr bei ihnen sein würde. Aber diejenigen, die im Land bleiben würden, sahen einer sehr negativen Zukunft entgegen (V. 8-10). Gott erwähnte sogar schon damals, dass sie in Ägypten wohnen würden. Diese alle waren wie „schlechte Feigen, die vor Schlechtigkeit nicht gegessen werden können“ (V. 2).

Sollte Jeremia nun mit den „guten Feigen“ mitgehen und dort seinen Dienst fortsetzen? Das wäre sicher schöner gewesen. Auch Daniel war in Babel und Jeremia war von ihm als Prophet anerkannt (Dan 9,2). Mit den Juden dort hätte er gemeinsam das Wort Gottes lesen und darüber nachdenken können. Eine sicher angenehme Vorstellung. Aber als treuer Diener wollte Jeremia auf die Weisung Gottes warten. So blieb er bei den „schlechten Feigen“ (Jer 40,6) und setzte seinen leidensvollen, scheinbar unfruchtbaren Dienst unter ihnen fort. Schließlich ging er sogar mit nach Ägypten, dies allerdings wohl nicht ganz freiwillig (Jer 43,5.6). So blieb er bis zum Schluss unter den „schlechten Feigen“, und tat dort seinen Dienst; ganz sicher für seinen Gott, der ihm diese Aufgabe unter dem Überrest gegeben hatte. Er erinnert ein wenig an die Maschinisten auf der Titanic, die so lange wie möglich an den Maschinen blieben, um die Pumpen weiter zu betreiben und damit das Schiff möglichst lange noch über Wasser zu halten, sowie die Dynamos in Betrieb zu halten, damit auf dem Schiff das Licht nicht ausfiel. Sie blieben auf ihrem Posten, obwohl ihnen klar war, dass sie den Untergang nicht verhindern konnten. Als sie schließlich die Maschinenräume aufgaben, war es für die eigene Rettung zu spät, aber sie hatten die Rettung Hunderter anderer ermöglicht.

So sehen wir in Jeremia einen Diener, der bis zum Schluss treu blieb. Über 40 Jahre tat er einen scheinbar fruchtlosen Dienst in einer kontinuierlich feindlicher werdenden Umgebung. Dadurch weist er  auf den Herrn Jesus hin und ist ein Vorbild für uns. „Wohl du guter und treuer Knecht! … Geh ein in die Freude deines Herrn“ (Mt 25,21).

 

Parallelen zwischen Jeremia und Jesus Christus

Wie wir gesehen haben, diente Jeremia über 40 Jahre treu seinem Gott, während es um ihn herum immer weiter bergab ging. Es war ein Dienst in Einsamkeit und Ablehnung, bei dem es keine Frucht zu sehen gab. Dabei ist die Ähnlichkeit mit unseren Herrn offensichtlich:

Beiden gemeinsam war der Charakter der Gerichtsankündigung. Sowohl Jeremia als auch der Herr Jesus haben kurz vor einem Gericht gelebt (wobei Jeremia die Zerstörung erlebte, während Christus zuvor in das Gericht Gottes ging und sein Leben hingab); in beiden Fällen war es die Zerstörung Jerusalems und des Tempels. Beide haben diese Zerstörung angekündigt: Jeremia die Eroberung durch die Babylonier, der Herr die bevorstehende Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahr 70 n.Chr. Sowohl Jeremia als auch der Herr Jesus haben den heuchlerischen Gottesdienst im Tempel angeprangert. Beide haben dies im Tempel angeklagt. Und beide haben gegen den Tempel geredet.

Bei beiden finden wir aber auch eine große Liebe zum Volk Gottes. Beide haben ihren Dienst aus Liebe zum Volk getan und beide haben über Jerusalem geweint.

Auch die Verwerfung hat Jeremia in ähnlicher Weise erfahren, wie der Herr. Beide waren vom Volk verworfen und bei beiden waren selbst die Verwandten gegen sie. Sowohl Jeremia als auch der Herr Jesus wurden gefangen genommen und wegen ihrer Botschaft verurteilt. Letztendlich wurden beide in die Grube geworfen, wobei dies bei Jeremia buchstäblich geschah, bei dem Herrn jedoch im übertragenen Sinn, wie Psalm 69,3 und Psalm 40,3 beschreiben, dafür aber viel weitergehender.

Auch im Dienst gab es Parallelen. Beide haben in vielen Gleichnissen und Bildern gesprochen. Persönlich waren beide von Einsamkeit gekennzeichnet und beide waren unverheiratet. Aber beide genossen auch eine tiefe, vertraute Gemeinschaft mit Gott, auch wenn die Gemeinschaft, die der Sohn Gottes mit seinem Gott und Vater hat, natürlich weit über das hinausgeht, was ein Mensch jemals erfahren kann.

So finden wir in Jeremia viele Charakterzüge des Herrn, und das ist einleuchtend, denn wenn wir Jeremia als einen Diener sehen, der unter extrem schwierigen Bedingungen seinen Dienst in außerordentlicher Treue ausführte, so ist klar, dass er damit dem wahren Diener Jesus Christus ähnlich sein muss.

Lassen wir uns anspornen und nehmen wir uns Jeremia zum Vorbild, auch wenn gewiss nur wenige einen solch anspruchs- und leidvollen Dienst vom Herrn erhalten haben wie Jeremia.

 



[1] Kap. 45 ist zeitlich früher als Kapitel 44 einzuordnen (nach dem Jeremia aus der Grube geholt worden war) und die Kapitel 46–51 beinhalten Voraussagen über die umliegenden Völker.