Themenheft

Die Einheit der Versammlung – (wie) funktioniert das in der Praxis heute?

Das Neue Testament spricht mehrfach von dem einen Leib, der einen Versammlung, die aus allen Gläubigen besteht. Darüber gibt es keinen Zweifel. Schwieriger ist die Frage, in welchem Zusammenhang die örtliche Versammlung (Gemeinde) zu der gesamten Versammlung steht und wie heute noch Einheit in der Praxis gelebt werden kann.

 

Einzigartige Beziehungen

Kommt jemand zum lebendigen Glauben an den Herrn Jesus und sein Erlösungswerk, ist er für ewig gerettet und hat Frieden mit Gott. Aber das ist nicht alles: Er hat neues, göttliches Leben empfangen und ist ein Kind Gottes geworden; er darf Gott „Vater“ bzw. „Abba Vater“ nennen und weiß sich unendlich geliebt. Eine glücklichere Beziehung gibt es nicht. Doch da sind andere Kinder Gottes, die genauso aus Gott geboren sind und die dasselbe Leben haben. Zusammen bilden wir die Familie Gottes.

Darüber hinaus besteht eine Beziehung, die mit dem Bild des menschlichen Körpers veranschaulicht wird: Wir sind Glieder des Leibes Christi, „von seinem Fleisch und seinen Gebeinen“ (Eph 5,30), „einzeln aber Glieder voneinander“ (Röm 12,5). Wir sind so eng mit Christus verbunden, dass wir als Glieder seines Körpers betrachtet werden und gemeinsam den „einen Leib in Christus“ (vgl. Röm 12,5) bilden. Die Bildersprache wird bei diesem Vergleich fast mit der Wirklichkeit gleichgesetzt, obwohl natürlich kein Gläubiger physisch einen Körperteil des Herrn Jesus bildet. „Glieder voneinander“ bedeutet dabei nichts anderes als organisch, innerlich miteinander verwachsen zu sein. Im Gegensatz zu den natürlichen Verwandtschaftsbeziehungen, die allein für diese Erde Gültigkeit haben, bleiben diese geistlichen Beziehungen – sowohl zu Christus als auch untereinander – für ewig bestehen. Gott gebraucht sie, um dadurch die Herrlichkeit seines Sohnes darzustellen. Diese Beziehungen sind genauso real wie unsere verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen. Sie gehen aber noch viel tiefer. Sind sie uns etwas wert?

 

Eine Versammlung – weltweit und örtlich

Als der Herr Jesus das erste Mal von seiner Versammlung sprach, sagte Er: „… auf diesen Felsen will ich meine Versammlung bauen“ (Mt 16,18). Sie bestand zum Zeitpunkt dieser Aussage also noch nicht. Sie entstand erst nach seiner Himmelfahrt, als der Heilige Geist auf diese Erde kam und die Gläubigen zu einem Leib taufte (1. Kor 12,13). Seitdem baut Christus seine Versammlung. Er baut immer noch an ein und derselben Versammlung; immer noch werden Menschen „hinzugetan“ (Apg 2,41.47; 5,14; 11,24) – hier und dort, an verschiedensten Orten auf dieser Erde. Und doch ist es immer nur der eine Bau, die eine Versammlung.

Als der Herr Jesus das zweite Mal von seiner Versammlung sprach, sagte er: „Wenn er [der Bruder, der gesündigt hat] aber nicht auf sie [die zwei oder drei Zeugen] hört, so sage es der Versammlung“ (Mt 18,17). Meinte der Herr hier irgendeine Versammlung, etwa eine jüdische Versammlung? Nein, es gibt keinen Grund, an eine andere Versammlung zu denken als an die, von der Er bereits einige Zeit vorher gesprochen hatte – die Versammlung, die nach seiner Himmelfahrt entstehen würde. Der weitere Verlauf von Kapitel 18 bestätigt das: Der Versammlung wird eine Befugnis übertragen, nämlich zu „binden“ und zu „lösen“ (vereinfacht gesagt, geht es dabei um eine Aufgabe im Blick auf Aufnahme und Hinaustun), die im Judentum so nicht bekannt war.

Diese neue Befugnis steht in direktem Zusammenhang mit dem Vorrecht, versammelt zu sein im Namen des Herrn Jesus. In seinem Namen zusammenzukommen beinhaltet einerseits, dass Er nicht sichtbar auf der Erde ist; andererseits ist Er doch persönlich zugegen und bildet dann sogar den Mittelpunkt des Zusammenkommens: „Da bin ich in ihrer Mitte“ (Mt 18,20).

Der Apostel Paulus verwendet einen sehr ähnlichen Wortlaut, wenn er an den Mann in Korinth dachte, der aus der Gemeinschaft der Gläubigen hinausgetan werden sollte: „… wenn ihr und mein Geist mit der Kraft unseres Herrn Jesus versammelt seid“ (V. 4).

 

Versammlung am Ort – Ausdruck der weltweiten Versammlung

Hier geht es offensichtlich um den örtlichen Aspekt der Versammlung. Denn Gläubige können nur an einem geografischen Ort „versammelt sein“. Der Aufforderung „so sage es der Versammlung“ kann man in der Praxis nur innerhalb der örtlichen Versammlung nachkommen. Dasselbe gilt, wenn jemand aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden muss (vgl. 1. Kor 5).

Dennoch ist es bezeichnend, dass der Herr Jesus in Matthäus 18 „Versammlung“ nicht neu definiert, nachdem er in Kapitel 16 von der Versammlung in ihrem universalen Aspekt gesprochen hat. Damit wird deutlich, dass die Versammlung in Matthäus 18 prinzipiell nichts anderes ist als die Versammlung in Kapitel 16, nur eben beschränkt auf die Gläubigen an diesem Ort. Eine örtliche Versammlung bezieht folglich ihre Identität aus der universalen Versammlung – und ist nicht irgendein selbstständiges Organ, das Menschen eingeführt haben.

Vor diesem Hintergrund ist auch verständlich, warum der Herr sagt: „Wahrlich, ich sage euch: Was irgend ihr auf der Erde binden werdet …“ (Mt 18,18). Die örtliche Versammlung „bindet“ und „löst“ also nicht für ihren Ort allein, sondern weltweit, erdumspannend. Und das ist so, weil die örtliche Versammlung nichts anderes ist als die gesamte Versammlung, nur eben beschränkt auf den jeweiligen Ort.

In Apostelgeschichte 20,28 findet sich übrigens ebenfalls ein solcher nahtloser Übergang zwischen der örtlichen und der universalen Versammlung:

„Habt acht auf euch selbst und auf die ganze Herde, in der euch der Heilige Geist als Aufseher gesetzt hat, die Versammlung Gottes zu hüten, die er sich erworben hat durch das Blut seines Eigenen.“

Zunächst werden die Aufseher in Ephesus ermahnt, die Versammlung Gottes zu hüten, also die örtliche Versammlung. Doch dann wird ohne Überleitung vom universalen Aspekt der Versammlung gesprochen. Denn Gott hat sich natürlich die Gesamtheit aller Erlösten von Pfingsten bis zur Entrückung erworben, nicht nur die Versammlung in Ephesus.

Dieser Gesichtspunkt hilft uns zu verstehen: Die örtliche Versammlung ist im Wesen nichts anderes als die Versammlung Gotte im Ganzen. Das hat dann wertvolle und wichtige Auswirkungen auf das Miteinander von örtlichen Versammlungen.

 

Ein Brot – ein Leib

Der Zusammenhang zwischen der örtlichen Versammlung und dem einen (universalen) Leib findet einen starken Ausdruck beim Brotbrechen. In 1. Korinther 10,17 heißt es: „Denn ein Brot, ein Leib sind wir, die Vielen, denn wir alle nehmen teil an dem einen Brot.“ Dass „die Vielen“, nämlich alle Gläubigen weltweit (vgl. Röm 12,5), den einen Leib bilden, haben wir bereits gesehen. Aber dass die Vielen an dem einen Brot teilnehmen, mag auf den ersten Blick überraschen. Paulus selbst war ja nicht in Korinth als er den Brief schrieb, sondern in Ephesus. Dennoch schreibt er: „wir alle nehmen teil an dem einen Brot“. In der Tat wird an vielen Orten auf der Erde das Brot gebrochen. Aus rein natürlicher Sicht sind es viele Brote. Doch der Heilige Geist spricht von dem einen Brot. Das örtlich stattfindende Brotbrechen ist also keineswegs Ausdruck einer rein örtlichen Einheit und Gemeinschaft, sondern der weltweiten Einheit und Gemeinschaft des Leibes Christi.

 

Christi Leib

Interessant in diesem Zusammenhang ist auch, dass der Apostel Paulus den Korinther sagt: „Ihr seid Christ Leib“ (1. Kor 12,27). Er sagt nicht: Ihr seid der Leib Christi (dann bestände die Versammlung nur aus den Gläubigen in Korinth). Und er sagt auch nicht: Ihr seid ein Leib Christi (dann gäbe es ja viele örtliche „Leiber“). „Ihr seid Christ Leib“ bedeutet, dass die örtliche Versammlung den Charakter des Leibes Christi trägt und diesen Leib an ihrem Ort sichtbar werden lässt.

 

Die Einheit des Geistes bewahren – eine Utopie?

Aus der Tatsache, „ein Leib in Christus“ zu sein, ergeben sich praktische Konsequenzen. Das, was Gott, der Heilige Geist, zu Pfingsten zustande gebracht hat, soll uns stets bewusst sein. Wir sollten im gemeinschaftlichen Leben als Glieder des Leibes Christi zeigen, was wir wirklich sind: ein Organismus. Doch ist das nicht utopisch? Können wir angesichts der zersplitterten Christenheit überhaupt noch verwirklichen, dass wir „ein Leib in Christus“ sind?

Manche haben versucht, durch Allianzbewegung und Ökumene die trennenden Mauern abzureißen und wieder Einheit zu leben. Doch entspricht diese Maßnahme den Absichten und Zielen des Heiligen Geistes, wo doch so viel Verkehrtes und Böses in die Kirchen und Gemeinden eingedrungen ist? Kann das alles ignoriert werden?

Sollen wir einfach „mit aller Demut und Sanftmut, mit Langmut“ das Böse ertragen? Nein, das kann nicht gemeint sein. Gott hasst das Böse. Demut, Sanftmut und Langmut sind zwar enorm wichtig, um biblische Einheit zu leben, weil kulturelle, soziale und charakterliche Unterschiede für uns Menschen oftmals eine große Herausforderung darstellen. Doch die „Einheit des Geistes“ zu bewahren, ist etwas anderes. Schon der Begriff macht deutlich, in welche Richtung unsere Gedanken gelenkt werden sollen.

Zum einen hat der Heilige Geist eine Einheit zustande gebracht, die alle Gläubigen umfasst und die wiederum den einen Leib bilden. Das ist wichtig festzuhalten. Und doch werden wir nicht dazu aufgefordert, die „Einheit des Leibes“ zu bewahren (sonst könnten wir meinen, mit allen Gläubigen – egal, was sie tun und denken – Gemeinschaft haben zu müssen). Bei der „Einheit des Geistes“ wird unsere Aufmerksamkeit auf die göttliche Person gerichtet, die diese Einheit zustande gebracht hat: der Heilige Geist. Und der Heilige Geist hat das Ziel und die Absicht, Christus zu verherrlichen (Joh 16,14).

Die Einheit des Geistes zu bewahren, führt in der Praxis also dazu, einerseits den ganzen Leib vor Augen zu haben („da ist ein Leib“) und keine andere Identität anzunehmen außer „Leib Christi“ bzw. „Glieder seines Leibes“ zu sein. Andererseits gilt es, von allem abzustehen, was nicht den Absichten des Heiligen Geistes entspricht. Man denke an das Predigeramt, die Beteiligung von Frauen in den Zusammenkünften, die Gründung von eigenständigen Ortsgemeinden usw.

Also Einheit – ja, aber nicht auf Kosten der Wahrheit. Wenn wir dem Herrn und seinem Wort treu sein wollen, wird der „Kreis“, in dem wir Gemeinschaft pflegen, kleiner sein als die grundsätzlich zustande gebrachte Einheit, so traurig das auch ist und so sehr es uns auch schmerzt.