Bibel praktisch

Der Brief an Philemon - ein Ausweg aus einer ausweglosen Situation

Zwischenmenschliche Probleme und die daraus resultierenden Folgen sind so alt wie die Menschheit. Auch unter Christen kommt es immer wieder zu Situationen, in denen das Verhältnis zwischen Geschwistern scheinbar hoffnungslos verfahren ist. Man fühlt sich durch den anderen verletzt, betrogen, missverstanden, hintergangen oder gedemütigt. Die Folge ist, dass das Verhältnis zwischen den betreffenden Geschwistern deutlich abkühlt.

 

Man redet nicht mehr mit einander und geht dem anderen aus dem Weg. Statt die Sache zu klären, geht man lieber zu anderen Geschwistern und sucht dort die Bestätigung der eigenen Sichtweise. Das Misstrauen wächst und greift auf andere über – eine tödliche Falle für die Gemeinschaft unter Christen. Die Gründe für Konflikte unter Gläubigen sind vielfältig. Auch unbereinigte Sünde gehört dazu. Handelt es sich wirklich um eine ausweglose Situation?

 

Die Verantwortung als Mitbruder oder Mitschwester

Geschwister, die etwas von zerrütteten Verhältnissen oder zwischenmenschlichen Problemen mitbekommen, haben eine besondere Verantwortung. Sie können – unter der Leitung des Heiligen Geistes – wesentlich zur Wiederherstellung beitragen. Der Brief an Philemon zeigt, wie und in was für einer Gesinnung das geschehen kann. Das begleitende Gebet sollte dabei nicht fehlen.

Der Brief an Philemon zeigt, dass es einen Weg aus der Krise gibt.

 

Die Handlung des Briefes

Als der Apostel Paulus ungefähr im Jahr 63 n. Chr. den Brief an Philemon schrieb, befand er sich im Gefängnis in Rom. Das Ende dieser ersten Gefangenschaft stand unmittelbar bevor, und der Apostel hatte die Hoffnung, Philemon bald wiederzusehen (Vers 22). Während seiner Gefangenschaft hatte er den entlaufenen Sklaven Onesimus kennen gelernt. Dieser hatte sich durch den Dienst des Apostels bekehrt und war ihm in der Zeit der Gefangenschaft ein nützlicher und treuer Bruder geworden. Mehr noch, Paulus war mit Onesimus herzlich verbunden, gerade weil er diesen in seiner Gefangenschaft zum Glauben an den Herrn Jesus führen durfte (Vers 10). Onesimus war vor seiner Bekehrung seinem Herrn (Philemon) davongelaufen, was in der damaligen Zeit gravierende Folgen haben konnte. Onesimus hätte – jedenfalls bei einem ungläubigen Herrn – bei seiner Ergreifung mit der Todesstrafe rechnen müssen.

Das Haus des Philemon befand sich in Kolossä (in der heutigen Türkei), wo auch ein Teil der Geschwister der Versammlung in Kolossä zusammenkam. Paulus schickt Onesimus mit dem Brief, begleitet von Tychikus, auch mit dem Ziel zurück zu seinem Herrn nach Kolossä (Kol 4,7–9), das Vorgefallene gottgemäß wieder in Ordnung zu bringen.

 

Paulus, ein alter Mann im Gefängnis

Gleich zu Beginn des Briefes fällt auf, dass der Apostel Paulus eine besondere Form für die Bezeichnung des Absenders benutzt. In manchen Briefen stellt sich Paulus als Apostel Jesu Christi vor; nicht so im Philemon-Brief. Dort nennt er sich Gefangener Christi Jesu und im weiteren Verlauf des Briefs einen alten Mann (Vers 9b). Was hatte Paulus, inspiriert durch den Heiligen Geist, veranlasst, so zu schreiben?

 

Die Liebe verzichtet auf eigene Rechte

Paulus hatte von der Liebe Philemons zum Herrn Jesus und zu allen Heiligen gehört (Vers 5). Er war davon überzeugt, an dessen Liebe anknüpfen zu können, die sich auch in der Praxis zeigte (Vers 7). Paulus hätte als Apostel das Recht gehabt, Philemon zu gebieten. Dieser hätte sich diesem Gebot sicher unterworfen. Doch wäre daraus vermutlich keine gute Beziehung zwischen Philemon und Onesimus entstanden. Hätte Paulus Philemons Herz erreicht, wenn er diesem in apostolischer Autorität geboten hätte, Onesimus als Bruder aufzunehmen? Sicher nicht. Deshalb gebot Paulus nicht, sondern er bat ihn. Er verzichtete auf seine Rechte als Apostel und stellte sich als einfacher Bruder (Genosse, vgl. Vers 17) vor, er, der alt geworden und wegen seines Glaubens im Gefängnis war. Als einen Freund, der einen sehnlichen Wunsch hatte. Sein Wunsch war, dass Onesimus frei wäre, an seiner Seite zu arbeiten. Das aber war nicht ohne das Einverständnis von Philemon, des Herrn von Onesimus, möglich. Zudem war es dafür nötig, dass die Beziehung zwischen seinem geliebten Kind im Glauben, Onesimus, und seinem geliebten Bruder, Philemon, wiederhergestellt würde. Das konnte Philemon nicht unberührt lassen, da er doch für seine Liebe zu den Geschwistern bekannt war.

 

Gehorsam aus Liebe ist ein gesegneter Weg

 

Die Gnade ist stärker als eigene Rechte.

Versetzen wir uns einmal in die Lage von Philemon. Was hättest Du an seiner Stelle gemacht? Onesimus hatte sich tatsächlich strafbar gemacht, indem er von seinem Herrn weggelaufen war. Vermutlich hatte er dabei auch noch etwas mitgehen lassen (Vers 18). Das war für Philemon, der unter den Geschwistern als liebevoll und fürsorglich galt (Vers 7), sehr enttäuschend und verletzend. Er hätte alles Recht der Welt gehabt, Onesimus zu bestrafen. Hätten wir nicht auch den Gedanken gehabt, Onesimus seiner gerechten Strafe zuzuführen? Sicher, Onesimus war zum Zeitpunkt seiner Flucht noch nicht gläubig gewesen. Aber deshalb war er ja nicht weniger schuldig. Jetzt bestand jedoch die Möglichkeit, dass ein Bruder einem anderen erlösten Bruder vergeben konnte. Philemon konnte Gnade vor seine eigenen Rechte stellen. Das war das Ziel von Paulus, und um dieses zu erreichen, wollte er seinem Bruder zu Hilfe kommen. Hättest Du das auch so gemacht?

 

Der Brief an Philemon – noch ein paar Tipps für die Praxis

Egal, ob Du Dich in der Situation von Paulus oder Philemon oder Onesimus befindest: Überwinde das Böse mit dem Guten (Röm 12,21) und geh den „unteren Weg“, auch wenn dies kein leichter Weg ist. Verzichte lieber auf Deine eigenen Rechte, wenn Du dadurch das Herz des anderen erreichen kannst. Es kostet Mut und Überwindung, aber es ist ein gesegneter Weg, weil er dem Willen Gottes entspricht.

Vielleicht denkst Du, dass der andere Dir nicht glaubt und Dein Bekenntnis nicht annehmen wird. Oder dass Du nicht die richtigen Worte findest, oder er/sie Dir gar nicht zuhören will. Macht nichts – geh trotzdem hin. Zum anderen zu gehen und ein Bekenntnis abzulegen ist Deine Verantwortung. Der Gedanke an eine unerwartete Reaktion vonseiten Deines Gegenübers sollte Dich nicht davon abhalten. Die Liebe zu Deinem Bruder oder Deiner Schwester sollte die Triebfeder für Dein Handeln sein; auch die vergebende Liebe, die der Herr Jesus für Dich hatte, als Er am Kreuz für Dich starb.

Wir dürfen daran denken, was der Herr Jesus hier auf der Erde von den meisten Menschen erfahren hat: nur Ablehnung, Hass und Verachtung. Wie hat Er darauf reagiert? Er hat sein Vorhaben nicht geändert, weil man Ihn nicht wollte (vgl. Jes 53,3.4). Er hat sich auch nicht gegen das ungerechte Verhalten der Menschen zur Wehr gesetzt (1. Pet 2, 23). Er ist in jeder Hinsicht und jeder Lebenssituation unser Vorbild, dem wir folgen dürfen. Der sich daraus für uns ergebende Segen wird nicht ausbleiben.

Man könnte sich nun die Frage stellen, wie Philemon wohl auf die Bitte von Paulus reagiert hat. Noch besser ist es, wenn wir uns die folgenden Fragen stellen:

  1. Wie sieht es mit meiner Liebe zu den Geschwistern aus, auch zu denen, die mir nicht so liegen?
  2. Bin ich bereit, für andere auf meine Rechte zu verzichten?
  3. Wenn Probleme zwischen Geschwistern aufkommen, rede und handle ich in dieser Situation zum Schaden, oder zur Wiederherstellung der Beziehung?
  4. Bin ich mir der Gnade, die ich geschenkt bekommen habe, bewusst, und bin auch ich gnädig in Bezug auf meine Geschwister?