Bibelstudium

Jeremia, der weinende Prophet (4)

Das Buch Jeremia gehört zu den Büchern der Bibel, die nicht so häufig gelesen werden. Der Unterschied zu den meisten anderen prophetischen Büchern besteht darin, dass vergleichsweise viel über den Propheten selbst berichtet wird. Es stellt uns einen treuen Diener in einem schwierigen Umfeld vor. Wir werfen einige Schlaglichter auf werfen und lassen so sein Leben und seinen Dienst zu uns sprechen.

 

Die Situation im Volk

Nach der Treuezeit von Josia ging es bereits während des Dienstes Jeremias vor der Belagerung Jerusalems im Volk Israel stetig bergab. Jojakim, dieser gottlose König, verachtete das Wort Gottes: Er zerschnitt und verbrannte die Weissagungen Jeremias (Kap. 36). Jeremia hatte in dieser Zeit einerseits um das Volk geweint, weil es unter den kommenden Gerichten leiden würde, andererseits aber auch heilige Abscheu vor der Gottlosigkeit des Volkes empfunden. In seinem Herzen waren Fragen nach dem „Warum“ aufgestiegen, und Gott hatte darauf geantwortet.

Wir springen nun gedanklich in die Zeit Zedekias, des letzten Königs in Juda. Jerusalem war bereits vom babylonischen Heer belagert worden, wobei es damals eine kurze Unterbrechung der Belagerung gab (Jer 37,11). Am Zustand Judas gegenüber der Zeit unter Jojakim hatte sich leider nichts Wesentliches geändert: Weder der König noch seine Knechte noch das Volk des Landes hörten auf die Worte Gottes (V. 2). Das muss für Jeremia äußerst frustrierend gewesen sein.

Bevor wir weiter in die Details einsteigen, zunächst ein Überblick über das, was seit dem Tod Jojakims während der zweiten Belagerung Jerusalems geschehen war. Für die Jahresangaben gilt hier wieder, dass diese nur Anhaltspunkte sind, weil die vorhandenen Quellen teilweise abweichende Jahreszahlen angeben.

 

Jahr (vor Christus) Begebenheiten
598 Nebukadnezar kehrt zurück nach Jerusalem, zweite Belagerung dieser Stadt. Jojakim versuchte vermutlich, in der Nacht zu fliehen, wurde aber von Nebukadnezar gekettet, um nach Babylon gebracht zu werden (2. Chron 36,6). Jojakim muss dabei gestorben sein, so dass er einfach auf die Erde geworfen wurde („Eselsbegräbnis“, Jer 22,18.19;36,30).
598 Jojakin wird während der Belagerung König (2. Kön 24,8).
597 Nach 100 Tagen (2. Chron 36,9) ergibt er sich mit seiner Familie und den Regierungsmitgliedern dem König von Babel. Nebukadnezar führt alle nach Babel weg – zweite Wegführung nach Babel (2. Kön 24,10-16).
597 Nebukadnezar macht Mattanja zum Vasallenkönig und ändert seinen Namen in Zedekia (2. Kön 24,17).
589

Zedekia bricht mit Babel. Erneute Belagerung Jerusalems (2. Kön 24,20–25,2)

Freilassung der Sklaven (Jer 34,8–10).

588 Kurze Unterbrechung der Belagerung (Jer 37,5). Erneute Versklavung der Freigelassenen (Jer 34,11). Gefangennahme Jeremias (Jer 37,15).
586 Eroberung der Stadt, dritte Wegführung nach Babel, Zerstörung Jerusalems. Zedekia wird geblendet, nachdem seine Söhne vor seinen Augen geschlachtet wurden, dann auch nach Babel verschleppt (2. Kön 24,4-7).
586 Gedalja wird durch Nebusaradan als Statthalter eingeführt (2. Kön 25,8.22). Nach nur zwei Monaten Ermordung Gedaljas durch einige der Fürsten Judas (Jer 41,1-2).
586 Flucht der restlichen Juden über Bethlehem nach Ägypten (Jer 41,17; 42,7).
560 Nach 37 Jahren im Gefängnis wird Jojakin im Alter von 55 Jahren durch Ewil-Merodak begnadigt (Jer 52,31–34).

 


 Gespräche zwischen Zedekia und Jeremia


In der Regierungszeit Zedekias gab es insgesamt drei Befragungen Jeremias durch den König. Da Zedekia sich vor den Fürsten fürchtete, fanden diese Befragungen mehr oder weniger heimlich statt. Die Situation schien jetzt umgekehrt als bei Jojakim; dort waren die Fürsten mehr auf der Seite Jeremias als der gottlose König. Zedekia hingegen war Jeremia durchaus gut gesonnen; leider hatten die Gespräche aufgrund Zedekias Furcht vor den Fürsten keine bleibende, positive Wirkung. Allerdings erkennt Gott an, dass Zedekia Jeremia nicht feindlich gegenüberstand; Er verheißt ihm, dass er in Frieden sterben werde (Kap. 34,2-5). Aber vielleicht kann man über Zedekia auch sagen: „beinahe bekehrt“. Die Situation erinnert an König Agrippa: „In kurzem überredest du mich, ein Christ zu werden“ (Apg 26,28). Leider lesen wir weder von Agrippa noch von Zedekia, dass sie wirklich zu Gott umgekehrt wären. Wie schade!

 

Zedekia befragt Jeremia (1)

Die erste Befragung zwischen Zedekia und Jeremia schildert Jeremia 21. Jerusalem wurde bereits von den Babyloniern belagert. Zedekia wollte nun wissen, ob Gott nicht doch eine Errettung schenken wollte. Vielleicht dachte er an die Situation bei Hiskia, wo Gott die Belagerung Jerusalems durch die Assyrer in wunderbarer Weise beendet und Jerusalem aus der Hand des feindlichen Heeres errettet hatte. Allerdings gab es zwischen Hiskia und Zedekia einen wichtigen Unterschied: Hiskia war im Unterschied zu Zedekia ein gottesfürchtiger König, der zudem das Gericht Gottes akzeptierte. So bekam König Zedekia eine deutliche Antwort: Gott selbst würde gegen sein Volk kämpfen (V. 5) und alle Bewohner von Jerusalem würden in die Hand Nebukadnezars gegeben werden (V. 7). Ferner legte Jeremia dem Volk eine Entscheidung vor (V. 8-10): Wer in der Stadt bliebe, würde unweigerlich sterben, wer aber zu den Chaldäern überliefe, würde überleben. War das ein Aufruf zur Fahnenflucht? Nein, hier ging es um etwas anderes: Zu den Babyloniern hinauszugehen, bedeutete, das Urteil Gottes über Juda und die Stadt Jerusalem zu akzeptieren und sich unter das gerechte Gericht Gottes zu  beugen. Wer hingegen in der Stadt blieb, um zu kämpfen und sie zu verteidigen, zeigte damit nur, dass er das Gericht Gottes ablehnte und das Urteil Gottes über Israel nicht anerkannte.

Interessanterweise ist dies ein Prinzip Gottes, das sich durch alle Heilsperioden wiederfinden lässt. Als der Herr Jesus auf der Erde war, sprach er zu den Pharisäern und Schriftgelehrten den bekannten Satz: „Nicht die Gesunden brauchen einen Arzt, sondern die Kranken; ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder zur Buße“ (Lk 5,31.32). Für diejenigen, die meinten, sie seien gerecht und hätten keinen Grund, Buße zu tun, war der Herr nicht gekommen; aber Er würde sich über die erbarmen, die sich als Sünder sahen und Gott Urteil über sie anerkannten, nämlich dass sie quasi krank seien, also sündig und verloren. Für diese war Er als der große Arzt gekommen, um sie zu heilen.

Heute, in der Gnadenzeit, ist dieses Prinzip weiter in Kraft. Diejenigen, die meinen, sie könnten sich durch eigene Werke dem Gericht entziehen und in ihrer eigenen Gerechtigkeit in den Himmel kommen, werden scheitern – so, wie die Juden 600 v. Christus, die meinten, sie könnten sich selbst gegen das von Gott geschickte babylonische Heer verteidigen. Nur der, der einsieht, dass er das Gericht Gottes verdient hat, dass es keine Möglichkeit gibt, aus eigener Kraft zu entrinnen, wird leben.

 

Zedekia fordert Jeremia zur Fürbitte auf

Bevor es zu einer weiteren Befragung Jeremias kam, beschreibt Jeremia 37,3-10, wie Zedekia den Propheten aufforderte, für das Volk zu beten. Das Belagerungsheer war von Jerusalem weggezogen (V. 5) und in Jerusalem machte man sich vermutlich Hoffnung, dass die Bedrohung durch Nebukadnezar nun vorbei sei. Trotzdem forderte Zedekia Jeremia auf, für das Volk zu beten. Offensichtlich glaubte er im Innern doch, dass die Prophezeiungen Jeremias richtig waren und die Babylonier bald zurückkommen würden. Wir lesen nichts davon, dass Jeremia der Aufforderung des Königs nachkam; schließlich hatte Gott ihm bereits Jahrzehnte zuvor mehrfach klargemacht, dass er nicht für das Volk beten sollte (Kap. 7,16; 15,1). Eine Antwort erhielt der König dennoch. Jeremia bestätigte seine ursprüngliche Aussage: das Heer von Babel würde zurückkommen und den Sieg über Jerusalem davontragen (Kap. 37,8).

Während der Unterbrechung der Belagerung fand nun eine interessante Begebenheit statt: Jeremia ging in das Land Benjamin, um dort geschäftliche Dinge zu erledigen (V. 12). Jetzt sahen die Feinde Jeremias ihre Stunde gekommen, Jeremia loszuwerden. In ihren Augen war er sowieso ein Verräter, der zur Fahnenflucht aufrief und mit seinen Aussagen die Moral der kämpfenden Truppe untergrub. – Im Zweiten Weltkrieg hätte man Leute wie Jeremia wegen „Wehrkraftzersetzung“ sofort an die Wand gestellt und standrechtlich erschossen. – Jeremia wurde der Fahnenflucht bezichtigt und ins Gefängnis geworfen; das war in dieser Zeit offensichtlich ein unterirdisches Kellerloch (V. 16).

Was für ein bitteres Los für den treuen Diener! Jeremia wurde gehasst, weil er das Wort Gottes redete. Wir in Europa kennen das nur wenig, aber in andern Ländern und zu anderen Zeiten haben die Christen das auch erfahren. Aber ganz besonders war dies auch Teil der Leiden des Herrn. Auch Er hatte Drangsale erlebt, weil er die Wahrheit und das Evangelium verkündigt hatte.

 

Zedekia befragt Jeremia (2)

In dieser Situation kam es nun zur zweiten Befragung Jeremias durch den König Zedekia, diesmal heimlich (Jer 37,17). Vermutlich hatten die Babylonier die Belagerung zu diesem Zeitpunkt bereits wieder aufgenommen; jedenfalls deutet Vers 21 das an. Zedekia richtete an Jeremia die Frage: „Ist ein Wort da von Seiten des Herrn?“ Hintergründig hört man die Hoffnung, ob es nicht endlich mal eine bessere Botschaft, als die „ewigen“ Ankündigungen von Niederlagen gebe. Die Antwort Jeremias war hart, aber eindeutig: „Du wirst in die Hand des Königs von Babel gegeben werden.“

Jeremia bat nun den König um Hafterleichterung. Er betonte, dass es eigentlich keinen Grund für die Gefangennahme gab, denn alle seine Prophezeiungen waren in Erfüllung gegangen. Das, was die andern Propheten Zedekias dagegen vorausgesagt hatten, hatte sich als falsch erwiesen (V. 19). Der König hörte auf Jeremia. Wieder zeigte sich, dass der König etwas für Jeremia empfand. Wir sehen aber auch, wie Gott den König Zedekia hier benutzt, um Jeremia vor den Fürsten, die seinen Tod forderten, zu bewahren. Der Herr hat immer Wege, für seine Diener zu sorgen, und sei es durch den schwachen König eines gottlos gewordenen Volkes.

 

Jeremia in der Grube

Kapitel 38 schildert zunächst einen weiteren Angriff auf Jeremia. Jeremia hatte trotz aller Anfeindungen nicht aufgehört zu predigen. Wie gut, wenn ein Diener seinen Dienst nicht „nach der Wetterfahne“ richtet, sondern unabhängig vom Beifall oder Missfallen der Zuhörer ausschließlich das Wort Gottes redet. Vielleicht besteht auch heute die Gefahr, das zu reden, was die Zuhörer gerne hören, oder was dem eigenen Ansehen unter den Geschwistern förderlich sein könnte. Es geht im Dienst nicht um die eigene Person, sondern ausschließlich um die Person unseres Herrn. Da ist Jeremia ein herausragendes Vorbild.

Erneut wurde Jeremia nun von den Fürsten der „Wehrkraftzersetzung“ bezichtigt. Sie kamen zum König und klagten Jeremia an. Zedekia war leider zu weich, um den Fürsten entgegenzutreten (V. 5), und so wurde Jeremia in eine Schlammgrube geworfen. Wieder eine Begebenheit, wo Jeremia dem wahren, treuen Diener ähnlich wird. Auch der Herr wurde gehasst, weil Er das Wort Gottes predigte, und im Bild wurde Er daraufhin in eine Grube voll Schlamm geworfen (Psalm 69,2-5.8.9).

In der Grube wäre Jeremia sicher schnell gestorben, aber Gott ließ das nicht zu. Er schickte einen Ausländer, Ebedmelech. Sein Name bedeutet übersetzt „Knecht des Königs“. Ebedmelech war ein echter Knecht Gottes. Er trat vor Zedekia, setzte sich für Jeremia ein und rettete ihn schließlich aus der Grube. Diese Rettungsaktion geschah in einer liebevollen, fast zärtlichen Art und Weise, um Jeremia nicht zu verletzen. Er warf Lappen und Lumpen in die Grube, damit die Seile, mit denen er Jeremia hervorholen wollte, nicht in seine Arme einschneiden und ihm Schmerzen bereiten konnten. So sorgte Gott auch hier für seinen Diener. Erst durch Zedekia, dann durch Ebedmelech.

 

Zedekia befragt Jeremia (3)

Nachdem Jeremia aus der Grube heraufgeholt worden war, wurde Jeremia ein drittes Mal von Zedekia befragt (Kap. 38,14-28), wieder heimlich. Zunächst hatte Jeremia Angst, dem König die Wahrheit zu sagen, vermutlich unter dem Eindruck, dass er in der Schlammgrube dem Tod gerade eben noch entronnen war. So zeigt Gott hier eine menschliche Seite des Propheten Jeremia. Die „Glaubenshelden“ des Alten Testaments waren eben keine Supermenschen, sondern Menschen wie wir, die auch mal Angst und Sorgen um ihr Wohlergehen hatten und nicht nur in „heiligen Sphären“ schwebten.

Dann aber gab Jeremia dem König doch noch eine klare Botschaft Gottes (V. 17). Es war die gleiche Botschaft wie immer: Es gibt einen Weg der Rettung, nämlich die Strafe Gottes anzuerkennen und sich dem König von Babel ergeben. Wenn du das tust, wirst du leben. Wenn aber nicht, so wird die Stadt und alles verloren gehen.

Wie reagiert Zedekia? Menschliche Überlegungen und Menschenfurcht hielten ihn davon ab, dem Wort Gottes zu gehorchen. In der Folge trat die Prophezeiung ein: Jerusalem wurde erobert, das jüdische Heer versuchte zu fliehen, wurde aber von den Babyloniern eingeholt. Zedekia wurde nach Babel verschleppt; dort wurde er geblendet, nachdem seine Söhne vor seinen Augen geschlachtet worden waren. Jerusalem wurde komplett zerstört, die Geräte des Tempels wurden nach Babel mitgenommen. Was für ein tragischer Ausgang der Bemühungen Jeremias um Zedekia.