Personen in der Bibel

Mose

Mag sein, dass wir uns Mose vorstellen, wie ihn die Maler gern gemalt haben: alter Herr mit langem, wehenden Bart, der würdevoll mit Gesetzestafeln unterm Arm vom Sinai herabschreitet. Eine Achtung gebietende Gestalt, die aber für unser Leben als Christen im 21. Jahrhundert keinerlei Bedeutung mehr hat. Wirklich nicht?

1. Was hat denn Mose mit uns zu tun?

Sehen wir uns die Lebensgeschichte dieses Mannes einmal näher an. Gottes Wort spricht zunächst von einem jungen Mann, der uns modernen Menschen bei näherem Hinsehen doch merkwürdig vertraut vorkommen muss: Gut ausgebildet, selbstbewusst, körperlich durchtrainiert, mit ganz hervorragenden beruflichen und gesellschaftlichen Aussichten. Ein Mann also, den wir ebenso in unserem heutigen beruflichen Umfeld antreffen könnten.

Mose war ein Israelit, er gehörte zum Volk Gottes. Diesem Volk ging es zur Zeit seiner Geburt schlecht. Es wurde geknechtet von dem damaligen Weltreich Ägypten und musste beim Bau der Pyramiden Sklavendienste leisten. Trotzdem hatte dieser junge Mann Mose die allerbesten Aussichten. Er stand nämlich in einem der mächtigsten Staaten der Welt schon als junger Mann ganz oben. Denn er gehörte zur Königsfamilie. Wie war das gekommen?

2. Ein abgegebenes Geschenk

Im Volk Israel waren männliche Babys immer eine ganz besondere Freude. Man sah darin die segnende Hand Gottes für den Fortbestand der Familie und des Volkes. Aber bei der Geburt Moses war die Freude gemischt mit großer Trauer, denn durch das Edikt des Pharao war das Kind in unmittelbarer Lebensgefahr. Männliche Nachkommen sollten sofort getötet werden.

Was taten die Eltern? Sie gaben dieses Geschenk an Gott ab. Sie legten es in einem sorgfältig gebauten und wasserdichten Körbchen ins Schilf des Nil - gewissermaßen in Gottes Hände zurück. Nun musste Gott sorgen − sie konnten es nicht mehr (vgl. 2 Mo 1). Und Gott sorgte dafür, dass die Tochter des Pharao ihn fand und adoptierte.

Es ist immer gut, das, was Gott uns schenkt, wieder in seine Hände zurückzugeben. Das fällt oft unsagbar schwer. Aber wenn wir es für uns festhalten wollen, verlieren wir es oft gerade. Manchmal fragt uns Gott, ob wir den Geber mehr schätzen als die Gabe.

In der Geschichte Abrahams finden wir dafür ein bewegendes Beispiel. Für Abraham war der Sohn Isaak ein wunderbares Geschenk. Er war − nach langer Wartezeit − die Erfüllung der Verheißungen Gottes. Der Beweis, dass Gott sein Wort wahr macht, auch wenn menschlich alles dagegen spricht. Aber Gott stellte Abraham eines Tages die schwierige Frage, ob er auch bereit war, dieses kostbare Geschenk wieder abzugeben.

Abraham tut es – und beweist damit, dass ihm Gott selbst und sein Wille wichtiger ist als die Gabe, die er ihm geschenkt hat. Und Isaak bleibt ihm dennoch erhalten.

Wir verlieren nichts, wenn wir die Dinge in Gottes Hände zurückgeben. Was Gott gibt, das gibt Er gewiss. Wie steht es mit unseren Berufszielen, mit den ins Auge und Herz gefassten künftigen Lebenspartnern, mit unseren Kindern, mit unserer gesamten Lebensplanung? Wenn wir es für uns selbst festhalten wollen, könnte für uns Haggai 1,9 zur schmerzlichen Erfahrung werden: „... und brachtet ihr es schon heim, so blies ich hinein.“

Moses Eltern gaben das Geschenk in Gottes Hände zurück. Auch die Sorgen, die sie um dieses Kind hatten, warfen sie damit auf Gott (was wir nach 1. Petrus 5,7 auch tun dürfen!).

Und das war der Anfang einer beeindruckenden Lebensgeschichte, in der Gott durch einen einzelnen Mann Großartiges wirken konnte.

3. Großartige Aussichten

In Apostelgeschichte 7 ist ein bemerkenswertes Urteil über ein Kleinkind festgehalten. In diesem faszinierenden Kapitel − es beginnt mit dem „Gott der Herrlichkeit“ und endet mit der „Herrlichkeit Gottes“ − liefert uns Stephanus eine meisterhafte Kurzfassung der Geschichte des Volkes Israel. (Es lohnt sich, dieses Kapitel einmal in einem Zug durchzulesen!) Dabei gibt er – geleitet durch den Geist Gottes – trotz der knappen Darstellung zahlreiche Zusatzinformationen, die das Alte Testament nicht enthält. Und hier finden wir Gottes frühe Bewertung des kleinen Mose:

Er war schön für Gott (Apg 7,20). Wir sind verblüfft: Spielt denn für Gott ein hübsches Näschen eine Rolle? Gefallen ihm die dunklen Augen dieses Knaben? Wir wissen, „der Herr sieht nicht auf das, worauf der Mensch sieht; ... der Herr sieht auf das Herz“ (1. Sam 16,7). Was ist es dann? Gott sieht bereits, was Er aus diesem kleinen Jungen einmal machen kann zu seiner Ehre, wie Er ihn einmal gebrauchen kann, wie er einmal „ein Freund Gottes“ sein wird!

Was uns betrifft: Würde es uns nicht auch leichter fallen, für unsere Geschwister zu danken (wie es z.B. Paulus in 1. Thessalonicher 1 tut) und sie zu lieben, wenn wir mehr daran dächten, was für einen Wert sie für Gott haben? Und denken wir daran, was Gott aus jedem von ihnen mit seinen ganz spezifischen Fähigkeiten machen kann?

Gott wusste also von Anfang an, was in diesem Mose „steckt“. Später merkten es − zwar in ganz anderer Hinsicht − auch die Menschen. Er war intelligent und hervorragend ausgebildet („unterwiesen in aller Weisheit der Ägypter“, Apg 7,22), ein großer, überzeugender Redner („mächtig in seinen Worten“, Apg 7,22), der es auch an dem notwendigen Durchsetzungsvermögen („mächtig in seinen Werken“) nicht fehlen ließ. Zu seinem guten Aussehen (2. Mo 2,2) kam ein vermutlich in den Kampfsportarten des damaligen Ägypten geübter Körper. Sonst hätte er wohl kaum – wie wir später erfahren – einen kräftigen Aufseher einfach erschlagen können.

Und am wichtigsten für eine strahlende Karriere in diesem kulturell und technisch hoch entwickelten Weltreich: Er gehörte zur ersten und reichsten Familie („ein Sohn der Tochter Pharaos“). Alle Türen standen ihm offen. Wir sind gespannt auf die sicher glanzvolle Laufbahn dieses beneidenswerten jungen Mannes.

4. Überraschende Entschlüsse

Dieser junge Mann trifft jedoch eine Entscheidung, die wir am allerwenigsten erwarten. In Hebräer 11,25 steht ein Satz, der uns fast den Atem stokken lässt: „Er wählte lieber, mit dem Volk Gottes Ungemach zu leiden ...“! Das heißt doch: Er sagt einer glanzvollen Zukunft ab, einem Leben im Reichtum, all den beruflichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten, die ihm seine Stellung geboten hat, um sich einer schmachvollen Existenz innerhalb eines armen, versklavten Volkes zuzuwenden, das ihm noch nicht einmal Sympathie entgegenbringt. Warum? Hat er den Verstand verloren? Die Antwort lautet: Er „hielt die Schmach des Christus für größeren Reichtum als die Schätze Ägyptens.“ Und: „Er schaute auf die Belohnung“ (V. 26). Sein Blick ging über die „Schätze Ägyptens“ hinaus in die unsichtbare Welt, in der die Bewertung der Dinge ganz anders ausfallen würde. Was sagt uns das?

Es gibt einen Bericht aus dem Leben William Kellys 1) , der uns vielleicht hilft, diese Entscheidung des jungen Mose in unsere Zeit zu übersetzen. Als der Rektor des Trinity-Colleges Kelly zu seiner akademischen Brillanz freundlich beglückwünschte, bot er ihm eine Stelle im Hochschulkollegium an und gab ihm zu verstehen, dass er sich in der Welt einen Namen machen würde, wenn er dieses Angebot annähme. „In welcher Welt, Sir?“, war Kellys Rückfrage.

Das war in der Tat eine höchst erstaunliche Antwort. Wie bei Mose war Kellys Blick in die unsichtbare Welt gerichtet, die seine Maßstäbe bestimmte.

Und wir? An grundlegenden Weichenstellungen dieser Art kommen auch wir in unserem Leben nicht vorbei. Alles entscheidet sich dann daran, wohin unser Blick gerichtet ist, auf diese oder auf die unsichtbare, ewige Welt. Was ist uns wichtig? 2. Korinther 4,18 bringt es auf den Punkt: „... indem wir nicht das anschauen, was man sieht, sondern das, was man nicht sieht; denn das, was man sieht, ist zeitlich, das aber, was man nicht sieht, ewig.“ Mose hat es praktiziert: „... er hielt standhaft aus, als sähe er den Unsichtbaren“ (Heb 11,27).

5. Das Steuer selbst in die Hand nehmen

Nach dieser eindrucksvollen und richtungweisenden Entscheidung sollte man denken, dass damit Moses Rolle als Führer des Volkes Israel vorgezeichnet war. Wer hatte bessere Voraussetzungen als er, wer eine ähnlich hervorragende Ausbildung?

Mose hat das wohl auch so gesehen. Apostelgeschichte 7 verrät uns: „Er meinte aber, seine Brüder würden verstehen, dass Gott ihnen durch seine Hand Rettung gebe“ (V. 25). Aber anstatt die Sache Gott zu überlassen, macht er sich auf, um die Dinge nun umgehend selbst in die Hand zu nehmen. Um eine ungerechte Behandlung auf der Stelle zu sühnen, erschlägt er kurzerhand einen ägyptischen Aufseher und muss daraufhin die Flucht ergreifen. Weder am Pharaonenhof noch bei seinem Volk ist nun noch Platz für ihn (vgl 2. Mo 2,11 ff.).

So herrlich klappt das, wenn wir selbst die Dinge in die Hand nehmen! Wir erreichen nur, „dass sich eine dichte Staubwolke um uns erhebt, die uns hindert, Gottes Hilfe und Rettung zu schauen“ (C.H. Mackintosh in „Gedanken zum 1. Buch Mose“).

Genau das erlebt nun Mose. Er ist schlagartig ganz unten angekommen. Er muss fliehen, anstatt seine große Aufgabe weiter verfolgen zu können. Und von seinen Brüdern wird er absolut nicht verstanden (Apg 7,25b–28), sondern sogar heftig abgelehnt − was für eine Enttäuschung! Er flieht verzweifelt − gewissermaßen ans „Ende der Welt“.

Und doch ist auch dies Gottes Weg für ihn: 40 Jahre „hinter der Wüste“! Warum? Was bezweckt Gott damit?

6. Enttäuschung und Scheitern

Vielleicht war da ein wenig zu viel Selbstvertrauen. Vielleicht fand er sich selbst ziemlich großartig. Jedenfalls konnte ihn Gott für seine Aufgabe so noch gar nicht brauchen.

Aber zur Vorbereitung auf eine Führungsaufgabe 40 Jahre Einsamkeit? Ja, Gottes Wege sind für uns manchmal rätselhaft. Das haben auch andere erfahren:

  1. Bevor Gott Joseph für seine große Aufgabe gebrauchen kann, geht es zunächst einmal für Jahre ins Gefängnis! 
  2. Bevor David (der „Mann nach dem Herzen Gottes“) als mächtiger König in Jerusalem regieren kann, wird er zunächst jahrelang wie ein Rebhuhn über die Berge gejagt.

Und doch − so seltsam uns diese Orte erscheinen, es sind doch gesegnete Orte. Hier geschieht, was Hosea 2,16 beschreibt: „Ich werde sie ... in die Wüste führen und zu ihrem Herzen reden ...“ Joseph hatte im Gefängnis diese Gemeinschaft und Zwiesprache mit seinem Gott. Psalm 105 verrät uns dazu: „Das Wort des Herrn läuterte ihn.“ Und viele Psalmen zeigen uns, dass David gerade in jenen schwierigen Jahren auf den Bergfesten seinen Gott so recht kennen gelernt hat und ihm besonders nahe war. Wie haben die hier gedichteten Lieder unzähligen Menschen Trost in notvollen Situationen geschenkt!

Solche Jahre der Vorbereitung sind keine verlorenen Jahre − ganz im Gegenteil. Auch für Mose ist dies die Zeit, in der er seinem Gott begegnet ist. Dort war „heiliger Boden“ (2. Mo 3,5).

7. Allein mit Gott

Kennen wir solche Orte, wo wir allein mit unserem Herrn sind, allein mit dem Meis- ter? Äußerlich sehen sie nicht so verlockend aus: Hinter der Wüste, im Gefängnis, auf öden Bergfesten − vielleicht ist es auch manchmal ein Krankenbett. Und doch sind es gesegnete Orte, die uns durch die Gegenwart Gottes verändern und unserem Leben eine neue Richtung geben können. Mose hat hier jedenfalls eine gewaltige Veränderung erfahren. Das werden wir bald sehen.

Zunächst lernt er den „Ich bin, der ich bin“ (vgl. Apg 7,25) kennen, den allmächtigen, unwandelbaren Gott. Den Gott, der wirklich über allem steht, dem niemand widerstehen kann. Aber dann erfährt er auch, dass dieser Gott um alles weiß und sich liebevoll um alles kümmern will: „Ich habe gesehen … Ich kenne seine Schmerzen … Ich habe sein Schreien gehört!“ (vgl. 2. Mo 3, 7–10).

Auch wir als Christen brauchen einen solch tiefen Eindruck sowohl von der Größe und Allmacht unseres Herrn als auch von seiner Liebe und Zuwendung zu uns.

8. Gott verändert uns

Danach ist alles verändert. Auch Mose ist nicht mehr wiederzuerkennen. Aus dem früher äußerst selbstbewussten Mann, der ein brillanter Redner war und der von der Zustimmung und Unterstützung seiner Brüder einfach ausging (Apg 7,25), ist nun jemand geworden, der nicht mehr viel von sich hält: „Wer bin ich, dass ich ... die Kinder Israel aus Ägypten herausführen sollte? … Ich bin kein Mann der Rede“ (2. Mo 3,11; 4,10).

Aus dem früher gefährlich jähzornigen Mann, der kurzerhand einen Menschen erschlägt, ist ein äußerst sanftmütiger Mann geworden: „Der Mann Mose aber war sehr sanftmütig, mehr als alle Menschen, die auf dem Erdboden waren“ (4. Mo 12,3). Ein Mann, der nicht mehr sich selbst vertraut, sondern der starken Hand seines Gottes. Diesem Herrn traut er nun alles zu (vgl. 2. Mo 6,1; 14,13 f).

Stellen wir uns die Frage: Was hat sich bei uns eigentlich getan? Sind wir wirklich Gott begegnet? Haben wir einen tiefen Eindruck von seiner Größe und Liebe bekommen? Wie hat Er uns verändern können? Sein Ziel mit uns ist, uns von unserer alten Art in das „Bild“ unseres Herrn umzugestalten (vgl. 2. Kor 3,18).

9. Wie kennt Gott uns?

Vielleicht bist du ein von deinen Mitgeschwistern geschätzter junger Bruder, der zu großen Hoffnungen Anlass gibt. Vielleicht bist du eine junge Schwester, die anderen als Vorbild vorgestellt wird. Vielleicht bist du ein bekannter und geachteter älterer Bruder. Alles sehr schön − aber was sind wir für Gott?

Von Mose wissen wir es: Er war ein Freund Gottes. Aus dem Mann mit den glänzenden Aussichten in der Welt des ägyptischen Reiches − der auf diese Karriere verzichtet hat – ist ein ganz anderer geworden, ein Mann, der in der ewigen Welt geschätzt wird: „Und der Herr redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freund redet“ (2. Mo 33,11). „Und es stand ... kein Prophet mehr auf wie Mose, den der Herr gekannt hätte von Angesicht zu Angesicht“ (5. Mo 34,10).

Ein Mann, der ein tiefes Verständnis von den Gedanken Gottes hat: In 2. Mose 32,30 ff. wird berichtet, wie er sich für das in Sünde gefallene Volk opfern will (was niemals möglich war) − eine Vorschattung des stellvertretenden Leidens und Sterbens unseres Herrn. Ob er schon etwas ahnte von Gottes Plänen zur Rettung einer verlorenen Menschheit?

10. Sind wir brauchbar für Gott?

Dieses tiefe Eingehen in die Gedanken Gottes machte Mose fähig zu äußerst wichtigen Diensten. Er konnte mit großer Glaubensstärke ein Millionenvolk aus Ägypten heraus und 40 Jahre durch die Wüste führen. Aber Gott konnte ihn auch gebrauchen für den wohl wichtigsten Dienst überhaupt: Als Männer gebraucht wurden, die mit unserem Herrn „seinen Ausgang, den er in Jerusalem erfüllen sollte“ besprechen konnten, waren das nicht die Jünger. Sie hatten noch viel zu wenig verstanden. Aber Mose und Elia waren dafür geeignet. Sie kannten etwas von den Gedanken und Plänen Gottes für sein Volk und darüber hinaus (vgl. Lk 9,28 ff.).

Und so endet die Geschichte dieses Mannes Mose in jener atemberaubenden Szene auf dem Berg der Verklärung, wo der Herr ihn zum letzten Mal in seinem Dienst gebrauchen konnte.

Unsere Dienste für Gott werden ganz sicher weniger anspruchsvoll sein. Vielleicht kommen sie uns ganz unbedeutend vor. Aber die Frage ist: Sind wir überhaupt brauchbar im Dienst für unseren Herrn? Die Geschichte Moses zeigt uns etwas von der Art der Vorbereitung auf solchen Dienst.

Armin Unterberg

Fußnoten

1) William Kelly – sein Leben und Werk, E. Cross, CSV, Seite 20.