Hermann Menge und seine Bibel

Hermann Menge und „seine" Bibel

Trotz der Fülle neuer Bibelübersetzungen hat die sogenannte „Menge-Bibel" nach wie vor einen festen Platz unter den „guten" Übersetzungen der Heiligen Schrift. Obwohl diese Ubersetzung in den letzten Jahrzehnten keiner Uberarbeitung unterzogen wurde, wird sie neben traditionellen Übersetzungen wie Luther oder Elberfelder oft zum Vergleich herangezogen.

Heute wollen wir einmal einen kurzen Blick auf das Leben dieses Mannes werten und auf die Umstände, die zu „seiner" Bibelübersetzung führten.

Hermann Menge wurde am 7. Februar 1841 in Seesen, einer kleinen Stadt bei Göttingen, geboren. Auf die Frage einer Bekannten nach ihrem sechsten Kind soll Mutter Menge geantwortet haben: „Hermann is'n guter Junge, aber'n büschen dumm is er!" Nach der damals üblichen Bürgerschule trat er mit zehn Jahren in eine Art Realschule ein, auf der auch Griechisch und Latein unterrichtet wurden. Mit 15 Jahren schließlich wurde er in ein Gymnasium in Braunschweig aufgenommen. Die erste Klassenarbeit erhielt er als „sub censura" zurück, was so viel wie „unkorrigierbar" bedeutete - heute wahrscheinlich eine „Sechs minus". In Griechisch musste er Nachhilfeunterricht erhalten. Dann aber schien plötzlich der Knoten zu platzen. 1860, mit 19 Jahren, legte er ein ausgezeichnetes Abiturexamen ab. Bemerkung der prüfenden Lehrer: „Wir bitten, den Menge zu unterstützen; er ist der Unterstützung ebenso würdig wie bedürftig."

An der Universität in Göttingen studierte er alte Sprachen und Geschichte, promovierte bereits nach sechs Semestern und bestand ein weiteres Jahr später sein Staatsexamen. Immer wieder kreuzten wohlwollende Vorgesetzte seinen Weg, so dass er auf vielfache Weise gefördert wurde.

Im Anschluss an sein Studium erhielt er Lehrerstellen in Helmstedt und Holzminden. In Helmstedt beauftragte man ihn u. a., den Hebräisch-Unterricht zu übernehmen. Er entgegnete: „Das ist unmöglich! Ich habe weder auf der Schule noch auf der Universität Hebräisch gelernt!" Aber es gab kein Pardon. Seine Antrittsrede anlässlich der ersten Hebräischstunde hörte sich folgendermaßen an: „Meine jungen Freunde, ich habe den Auftrag, Ihnen hebräischen Unterricht zu erteilen, und habe dabei das Bewusstsein, selbst nichts Ordentliches davon zu wissen. Ich bin also ziemlich in der gleichen Lage wie Sie. Was wir aber noch nicht können, das lässt sich lernen! Da wollen wir uns zusammentun und uns in gemeinsamer Arbeit die Kenntnisse aneignen, die von uns verlangt werden. Als Freunde wollen wir einander helfen." Für damalige Verhältnisse war diese ehrliche Erklärung sicher höchst ungewöhnlich, aber er hatte die Herzen seiner Schüler gewonnen.

Mit 34 Jahren - er hatte inzwischen seine ersten Lehrbücher verfasst - erreichte ihn eine Berufung an das Gymnasium in Sangerhausen. Hier wurde ihm der Titel „Professor" verliehen, und nach dem Tod des dortigen Direktors führte er dieses Gymnasium bis 1900. Krankheitsbeschwerden ließen den Wunsch nach der Pensionierung aufkommen, und so reichte er im selben Jahr sein Gesuch um Versetzung in den Ruhestand ein.

Für manchen ist ein solcher Zeitpunkt Anlass, etwas „kürzer zu treten" , aber Gott hatte offenbar für diesen „Rentner" etwas anderes vorgesehen. Gott begann in dieser Zeit auf besondere Weise zu ihm zu reden, und Er benutzte dazu ein Mittel, das heute noch redet: sein heiliges Wort. Von dieser Zeit lassen wir Hermann Menge selbst berichten:

„Meine Stellung im Glaubensleben ist seit meiner Jugend - ich bin im Jahre 1841 geboren - bis zum heutigen Tage nicht die gleiche geblieben, sondern hat um das Jahr 1900 herum eine gewaltige, nicht plötzliche, sondern allmählich erfolgende Umwandlung erfahren ... Die gebildeten Personen, die ich in meiner ganzen Jugend und im ersten Teile meines Mannesalters kennengelernt habe, auch mein Lehrer und die an der Kirche wirkenden Geistlichen waren, wenn sie nicht geradezu zu den Freidenkern und Atheisten gehörten, fast ausnahmslos ohne wirklichen Glauben; Repräsentanten des aufrichtigen Pietismus und des geisterfüllten und herzerneuernden Gemeinschaftslebens sind in jener ganzen Zeit nicht in meinen Gesichtskreis getreten, jedenfalls nicht zur Einwirkung auf meinen inwendigen Menschen gekommen. Kein Wunder also, dass ich nach Vollendung meiner Universitätsstudien und nach Eintritt in das Lehramt an höheren Schulen das Bild eines echten Duodezchristen und das Wesen eines natürlichen, nur mit einem Firnis des Christentums versehenen Menschen darbot und dass ich diese Beschaffenheit in einer den religiösen Interessen abgewendeten Zeit während des ruhigen Verlaufs meines Lebens lange unverändert beibehielt. Ich schien mir sogar Anspruch auf Gottes Wohlgefallen erheben zu dürfen und war auch unfraglich für die Außenwelt eine Respektsperson, die es auch in religiöser Beziehung an nichts fehlen ließ ... Es ist unglaublich und doch sichere Tatsache, dass ich bis zu meinem sechzigsten Lebensjahre kein einziges Kapitel im griechischen Neuen Testament gelesen und auch in der Lutherbibel vom Evangelium des Johannes kaum etwas anderes kennengelernt hatte als Jesu Gespräch mit Nikodemus ... Es liegt mir nunmehr ob, kurz zu berichten, wie die Liebe des himmlischen Vaters und des Heilands mich aus dem geistigen Schlafe und geistlichen Tode erweckt und zu einem neuen Leben hingeführt hat. Da will ich zunächst als das Beachtenswerteste hervorheben, dass diese Umwandlung bei mir nicht plötzlich eingetreten ist, sondern sich langsam, ganz allmählich, vollzogen hat. Ich habe keine Damaskusstunde wie Paulus ... erlebt... Es war an einem Abend im Herbst des Jahres 1899, als ich, von tiefer Ruhe rings umgeben, in meinem Amtszimmer oben im Gymnasium mit der Ausarbeitung von Morgenandachten für die Schule beschäftigt war: da trat mir die Erkenntnis von meiner Unbekanntschaft mit der Bibel in solcher Stärke vor die Seele, dass ich mich tief und aufrichtig zu schämen begann und den festen Entschluss fasste, mich dem Studium der Bibel, und zwar zunächst dem Neuen Testament, mit aller Kraft zu widmen. Ich erbat mir zur Ausführung meiner Absicht den göttlichen Beistand und fing an, zum erstenmal in meinem Leben im griechischen Neuen Testament zu lesen. Nun, was ich damals begonnen und meinem Gott und mir gelobt habe, das habe ich, von oben her gestärkt und erleuchtet, getreulich zur Ausführung gebracht, und zwar um so leichter, als die Kraft und Einwirkung von oben her sich immer stärker, ermutigender und erfolgreicher bei mir fühlbar machten ... Ich arbeitete zunächst das Neue Testament im Urtext mehrfach durch, und zwar mit der Feder in der Hand, wie das meine stehende Gewohnheit war, und machte alsdann den Versuch, zuerst die Perikopen des Kirchenjahres so zu übersetzen, wie es meiner besonderen Eigentümlichkeit zusagte. Diese Versuche fielen anfangs höchst unbefriedigend aus; ich hatte die zu überwindenden Schwierigkeiten weitaus unterschätzt...

Nach etwa einem Jahr war ich mit den geschichtlichen Büchern des Neuen Testaments fertig, und als mir dann der Gedanke vor die Seele trat, dass ich durch Veröffentlichung meiner Arbeit vielleicht mancher gleichgearteten Persönlichkeit einen Dienst erweisen könnte, erfasste mich eine solche Freudigkeit, dass ich, der Außenwelt immer mehr absterbend, jede andere Beschäftigung aufgab und mich nur noch der Übertragung der übrigen Bücher sowie der wiederholten Überarbeitung der übersetzten Teile widmete."

So weit der Bericht von Hermann Menge selbst.

1909 ist es so weit, dass ein Braunschweiger Verleger das Neue Testament in einer Prachtausgabe herausgibt. Obwohl die Rezensionen äußerst anerkennend ausfielen, konnte nur ein kleiner Teil der Auflage verkauft werden - der Verleger sagte sich enttäuscht von diesem Projekt los. Dennoch setzte Menge voll Vertrauen seine Arbeit fort und nahm auch das Alte Testament in Angriff. Weitere 12 Jahre ist Hermann Menge mit dieser Arbeit beschäftigt.

Er arbeitete daran, wie er sagte, „Tag und Nacht". Er war 81 Jahre alt, als er diese Arbeit beendet hatte. Was geschah dann?

Menge berichtet:

„Im Jahre 1922 packte ich das gewaltige Manuskript meines Bibelwerks zusammen und verschloss es in meinem Schreibtisch. Ich hegte keine Hoffnung und gab mir auch nicht die geringste Mühe, einen Verleger zu finden, weil ich jeden Versuch nach dieser Richtung hin für aussichtslos hielt; und trotzdem regte sich in mir kein Gefühl der Bitterkeit ...  Nein, ich fühlte bestimmt, dass ich meine Tätigkeit unter einem Zwang von oben her wie einst Jeremia (vgl. Jer 20,7-9) ausgeübt hatte, und freute mich von ganzem Herzen über den köstlichen Gewinn, den meine unermüdliche Beschäftigung mit der Heiligen Schrift meinem inneren Menschen eingebracht hatte. Es war ja eine gewaltige Veränderung zum Guten in mir vorgegangen im Vergleich mit der Zeit, da ich zu dem großen Haufen der im Dunkeln tappenden Weltkinder gehört hatte und mit geistiger Blindheit geschlagen in der Irre gewandelt war. Mir waren nunmehr die Augen geöffnet, so dass ich den Heilsplan, den Gott von Anfang an durch die Erwählung und Führung des israelitischen Volkes zur Rettung der gesamten Menschheit verfolgte, mit voller Klarheit durchschaute, und in meinem Herzen war das Licht aus der Höhe aufgegangen, so dass ich in Jesus Christus den Weg, die Wahrheit und das Leben erkannte und mir bewusst war, dass kein Name den Menschen gegeben ist, in dem sie selig werden sollen, als allein der Name Jesus. War mir durch diesen beglückenden Herzenszustand nicht der herrlichste Lohn zuteil geworden?"

Das Manuskript blieb nicht in Menges Schreibtischschublade. Es fand seinen Weg zur Württembergischen Bibelanstalt und wurde dort 1926 das erste Mal veröffentlicht. Diesmal wurde es kein Flop, sondern Menge berichtet darüber: „Und nun ist meiner Arbeit nach ihrer Drucklegung infolge des göttlichen Segens ein ganz ungewöhnlicher Erfolg beschieden worden, der meine kühnsten Hoffnungen weit übertroffen hat und für den ich meinem himmlischen Herrn, der mir die langen Jahre hindurch Kraft und Licht aus der Höhe verliehen hat, von ganzem Herzen dankbar bin und immerdar dankbar bleiben werde."

Innerhalb von 3½ Jahren wurden 70 000 Exemplare der Menge-Bibel verkauft. Kurz darauf waren die 100 000 überschritten. Aber Hermann Menge, nun schon weit über 80 Jahre, sah sein Werk nicht als vollendet an. Unaufhörlich arbeitete er an Verbesserungen seiner Übersetzung. Als einer seiner Schüler sich bei einem Besuch mit der Bemerkung verabschiedete, dass es wohl das letzte Mal gewesen sei, dass er seinen Lehrer in diesem Leben gesehen habe, antwortete Menge: „In zwei Jahren können Sie wiederkommen und mich noch einmal besuchen!" Auf die verwunderte Frage, ob er dessen so gewiss sei, dass er dann noch lebe, kam die Antwort: „Ja, sehen Sie, Herr Pastor, wenn ich einen Abschnitt meiner Bibelübersetzung fertiggestellt habe und sehe ihn dann an, dann sage ich mir: Menge, das hast du ganz gut gemacht! Wenn ich ihn dann aber zum zweiten Mal durchlese, dann sage ich: Menge, das wimmelt ja von Fehlern, das musst du noch besser machen! Und dazu brauchst du noch volle zwei Jahre! Dann bitte ich den himmlischen Vater, er möge mich dann noch diese zwei Jahre leben lassen, bis ich das Werk, das er mir aufgetragen hat, so wie es sein muss, zu Ende geführt habe."

War dieses umfangreiche Werk der Grund, dass Gott Hermann Menge ein so langes Leben geschenkt hat? Er durfte im Kreis seiner Familie noch die diamantene Hochzeit feiern. Am 9. Januar 1939, fast 98 Jahre alt, rief Gott seinen Diener zu sich. Ein Leben war zu Ende, aber Gott sorgte dafür, dass sein Werk seinen Tod überdauerte.