Bibel praktisch

Heuchelei - ehrlich gesagt …

Ehrlich gesagt …

Heuchelei gehört zu den besonders unschönen Themen im Neuen Testament. Heuchelei ist eine verfeinerte Form von Lügen.

 

Um zu lügen, muss man „nur“ die Unwahrheit sprechen, um zu heucheln, muss man die Unwahrheit leben. Wir können gut verstehen, dass der Herr Jesus, der die Gedanken der Menschen sehen konnte (Mt 9,4), an verschiedenen Stellen im Neuen Testament die Heuchelei unter den Menschen seiner Zeit schonungslos aufdeckte. 17 Mal nennt der Herr in den Evangelien seine Gegner „Heuchler“. Dieses Urteil findet einen traurigen Höhepunkt in Matthäus 23, wo er die Pharisäer nicht weniger als sechs- oder siebenmal „Heuchler“ nennt, und dabei die verschiedenen Ausprägungen ihrer Heuchelei aufdeckt.

Auch bei anderen Gelegenheiten, zum Beispiel bei der Frage nach der Steuer (Mt 22,15-22), deckt der Herr die Heuchelei seiner Gegner auf. In diesem Fall war die Heuchelei besonders dreist: Die Pharisäer überlegten sich eine geeignete Frage, um den Herrn „in eine Falle zu locken“. Dann gingen sie zum Herrn, schmeichelten Ihm mit lobenden Worten, und stellten dann ihre Frage, so als ob sie wirklich Wert auf die Meinung des Herrn legten. Auch uns wäre eine solche Heuchelei zuwider, wenn wir damit zu tun hätten.

Lasst uns dieses traurige Thema damit nicht einfach abhaken. Nicht immer ist die Heuchelei so dreist: Manchmal kommt sie auch in einer so harmlosen Form daher, dass wir an Heuchelei gar nicht denken. Warum sollte es etwa Heuchelei sei, wenn ich etwas zum Wetter sage (Lk 12,54-57)? Oder wenn ich mich bereit erkläre, meinem Bruder zu helfen (Mt 7,3-5) oder  meine Überzeugung ausspreche (Lk 13,10-17)?

Es ist der Mühe wert, sich diese drei Begebenheiten einmal näher anzusehen. Denn in allen drei Fällen handelt es sich nicht um bewusste, dreiste Heuchelei – jedenfalls wird in diesem Moment nicht absichtlich etwas vorgetäuscht –, sondern um eine subtilere Form, die bei mir genauso vorkommen kann, vielleicht sogar, ohne dass ich es bemerke: eine bestimmte Art von Unausgewogenheit in der Beurteilung von geistlichen Sachverhalten. Das klingt komplizierter als es ist. Wir werden uns die drei Begebenheiten näher ansehen und dabei feststellen, dass auch wir von dieser Art der Heuchelei nicht immer frei sind.

 

„Es wird Hitze geben“

In Lukas 12,54-57 rügt der Herr Jesus die Menschen seiner Zeit, weil sie „ihre Zeit nicht beurteilten“. Um deutlich zu machen, was in ihrem Verhalten nicht stimmte, greift der Herr zwei ganz alltägliche Beobachtungen auf. Wenn eine Wolke aus dem Westen aufstieg (aus der Richtung des Mittelmeeres), wussten die Menschen, dass es Regen geben würde. Wenn aber der Wind aus dem Süden kam (aus der Richtung der Sinai-Wüste), wussten die Menschen, dass sie Hitze zu erwarten hatten. Diese Zusammenhänge waren für jeden einfach zu erkennen und gehörten zum Allgemeinwissen.

Der Herr konnte von seinem Volk erwarten, dass es „diese Zeit“ mit der gleichen Selbstverständlichkeit beurteilen würde, denn die damalige Zeit war wirklich nicht schwer zu beurteilen:

  • Palästina gehörte zum Römischen Reich. Die Münzen, die in Umlauf waren, waren römische Münzen (Mt 22,20-21), die römische Rechtsprechung hatte Vorrang vor der jüdischen (Joh 18,31). Seit Jahrhunderten hatte es keinen König auf Davids Thron gegeben, und die zehn Stämme waren nie aus dem Exil zurückgekehrt. Es war ganz offensichtlich, dass Gott sich nicht mehr zu seinem Volk bekannte und sie dadurch politisch unbedeutend geworden waren – ein schmerzhafter Kontrast zu den glorreichen Zeiten unter Königen wie David, Salomo und Josaphat. Diese klaren Fakten wurden von der Führerschaft dennoch geleugnet (Joh 8,33).
  • Es gab zur damaligen Zeit viele Menschen, die unter dämonischem Einfluss standen (Mk 1,32-34). Das religiöse Leben war eine „schwer zu tragende Last“ geworden (Mt 23,4), weil die religiöse Führerschaft Gottes Vorschriften entweder überstrapazierte (Mk 2,27) oder durch hinzugefügte menschliche Überlieferungen kraftlos machte (Mk 7,13). Soweit wir wissen, hatte Gott sich seit Generationen nicht mehr durch einen prophetischen Dienst an sein Volk gerichtet. Die „geistliche Armut“ war ebenso offensichtlich wie die traurige politische Lage.

Der Herr deckt daher die Haltung der Volksmengen als heuchlerisch auf, da sie ihre Urteilskraft für scharfsinnig und vernünftig hielten, aber für den geistlichen Zustand ihrer Zeit, der doch so offensichtlich nicht in Ordnung war, blind waren. Musste es nicht das Anliegen eines Juden sein, das göttliche Gericht, das auf dem Volk lastete, durch Gebet und Buße abzuwenden? Stattdessen schlossen die Menschen ihre Augen vor dem nahenden Gericht, und der Herr Jesus beschließt seine Warnung vor dieser Form der Heuchelei mit der ernsten Ankündigung, dass sein Volk die unabwendbare Strafe bis zum „letzten Cent“ bezahlen sollte.

Ein solches Verkennen des geistlichen Zustandes kann auch bei uns vorkommen. Vielleicht verschließen auch wir lieber die Augen vor dem heutigen Zustand der Christenheit. Ist uns klar, wie sehr sich die Versammlung als Ganzes von Gottes Vorstellungen wegbewegt hat? Und ist bei mir und dir in der örtlichen Versammlung wirklich alles so, wie Gott es möchte? Die Versammlung in Laodizea war auch blind geworden, was den eigenen Zustand betraf (Off 3,17.18) – der Herr Jesus rät ihr, „Augensalbe“ zu kaufen, um wieder sehend zu werden.

Wenn ich ehrlich mit mir selbst bin, erkenne ich vieles davon bei mir selbst wieder: Ich blende manches, was nicht in Ordnung ist, lieber aus, weil es mir peinlich ist. Und rede stattdessen lieber über unverfängliche Themen, als wäre alles in bester Ordnung.

 

Splitter und Balken

Ging es bei der oben erwähnten Belehrung noch um den Zustand des ganzen Volkes, betrifft das Gleichnis vom Splitter im Auge des Bruders (Mt 7,3-5) vor allem den eigenen, persönlichen Zustand. Es mag zutreffen, dass mein Bruder einen Splitter im Auge hat. Wer so etwas selbst schon einmal erlebt hat, weiß, wie schmerzhaft und unerträglich das ist. Dann ist es doch schön, wenn ich meinem Bruder Erleichterung verschaffen will, indem ich den Splitter aus seinem Auge entferne: Er selbst kann es wohl kaum machen.

Trotzdem nennt der Herr Jesus den hilfsbereiten Menschen einen „Heuchler“. Nicht die Hilfsbereitschaft als solche wird verurteilt, aber der Herr verlangt, dass der Helfer bei sich selbst anfängt. Denn er hat einen Balken in seinem eigenen Auge! Das ist ein so drastisches Bild, dass es schon unrealistisch ist: Wie sollte ich einen ganzen Balken im Auge haben, und dann noch einfach weitermachen, als wäre alles mit mir in Ordnung? Undenkbar!

Was aber denkbar ist (und realistisch!), ist ein solches Missverhältnis in der Beurteilung geistlicher Missstände, das der Herr hier als Heuchelei brandmarkt. Es mag eine natürliche Neigung sein, eigene Fehler zu bagatellisieren (klein zu reden), und die Fehler anderer an den Pranger zu stellen. Aber Gott verurteilt diese Neigung an vielen Stellen in seinem Wort.

Wenn wir für unsere eigenen Fehler „mildernde Umstände“ anführen, oder meinen, es seien eher „Schwächen“ als „Fehler“, dann müssten wir die Fehler unserer Brüder mit dem gleichen, milden Maßstab messen. Alles andere ist in Gottes Augen wie Messen mit „zweierlei Gewichtssteinen“, und das ist seinen Augen ein Gräuel (Spr 20,10). Römer 2,1 macht deutlich, dass ein solches Verhalten nicht zu entschuldigen ist.

Darum dürfen wir uns nie über den eigenen Zustand hinwegsetzen. Wir mögen in der Sache recht haben, wenn wir bei unserem Bruder ein Fehlverhalten feststellen, und wir mögen die ehrliche Absicht haben, ihm in der Sache zu helfen. Trotzdem wäre es nur Heuchelei, wenn wir Ähnliches oder sogar Schlimmeres bei uns selbst „durchgehen lassen“.

Wenn ich ehrlich mit mir selbst bin, ist mir diese Form von Heuchelei nicht fremd. Dass Gott sie nicht nur durchschaut, sondern auch so scharf verurteilt, gibt mir zu denken. Ist bei mir nicht auch schon mal ein Balken herangewachsen, an den ich mich ziemlich gut gewöhnt habe? Ist es mir nicht manchmal recht, von meinem Balken abzulenken, indem ich über den Splitter im Auge meines Bruders anfange?

 

„Nicht am Tag des Sabbats“

Die dritte Begebenheit ist vielleicht die überraschendste. Es lohnt sich, den Abschnitt in Lukas 13,10-17 vollständig zu lesen. Was war passiert? Eine Frau, die seit 18 Jahren in einem wirklich sehr bedauernswerten Zustand war (sie war zusammengekrümmt und konnte sich nicht mehr aufrichten), war am Sabbat in die Synagoge gekommen, und der Herr hatte sie geheilt. Dem Synagogenvorsteher war das nicht recht: Ihm war die strikte Einhaltung des Sabbatgebots wichtig und er hätte es lieber gesehen, wenn die Frau an einem anderen Wochentag geheilt worden wäre. Das war seine persönliche Überzeugung, und man kann sich tatsächlich fragen, warum der Herr nicht Rücksicht auf diese Empfindlichkeit nahm und die Frau einen Tag später heilte. Nach 18 Jahren kommt es auf einen einzigen Tag doch auch nicht wirklich an, oder? Doch!

Der Herr macht klar, dass es keine Option war, diese Frau auch nur einen Tag länger warten zu lassen. Denn – und das ist hier die Heuchelei – dieser Mann, der hier vor den Besuchern der Synagoge das Sabbatgebot so ernst nehmen wollte, übertrat das Sabbatgebot, um seinen Ochsen und seinen Esel auch am Sabbat keinen Durst leiden zu lassen, und führte sie zum Wasser, um sie zu tränken.

Auch hier war die Heuchelei bestimmt nicht beabsichtigt; es war in diesem Moment keine bewusste Verstellung, um den Mitmenschen etwas vorzugaukeln. Aber wie bei den beiden anderen Begebenheiten gab es hier eine Schieflage, gab es zwei Bewertungen, die einfach nicht zusammenpassten: Diese bedauernswerte Frau, die „eine Tochter Abrahams“ war, sollte es schlechter haben als ein beliebiges Nutztier?! Und auch hier ist das ein Anlass für den Herrn Jesus, von Heuchelei zu reden.

Nun bin ich kein Synagogenvorsteher, und ich habe weder Ochsen noch Esel. Aber wenn ich ehrlich mit mir selbst bin: Diese Worte des Herrn sprechen mich sehr an. Vielleicht liegt mein Auto mir manchmal mehr am Herzen als meine Glaubensgeschwister. Oder benutze ich eine Bibelstelle, um mein Herz vor der Not meines Nächsten zu verschließen? Ich fürchte, so etwas hat es auch bei mir gegeben. Der Herr hat mich bei solchen Dingen durchschaut und lässt mich hier wissen, wie sehr Er das verurteilt.

 

Ich bin froh, dass der Herr den Menschen der damaligen Zeit so deutlich gesagt hat, was Er von ihrem Verhalten hielt. Es hat auch mir viel zu sagen, und ich möchte seine Worte ernst nehmen. Ihm kann ich nichts vormachen, darum will ich mir zeigen lassen, wo es bei mir Schieflagen oder Missverhältnisse gibt, die nichts anderes als Heuchelei sind.