Friedrich von Bodelschwingh in Paris

Wenn jemand den Namen von Bodelschwingh (1831-1910) hört, denkt er sicher sogleich an die Anstalten von Bethel bei Bielefeld, wo dieser gläubige Mann über 30 Jahre segensreich gewirkt hat.
Weniger bekannt ist, dass Friedrich von Bodelschwingh nach seinem Theologiestudium in der Schweiz zuerst einmal einige Jahre in Paris gelebt hat, und zwar von 1858 bis 1864. Und aus dieser Zeit möchte ich eine kleine Begebenheit erzählen, die ich kürzlich in einer Biographie über ihn gelesen habe.
In Paris wohnten zu der Zeit etwa 80.000 — 100.000 Deutsche. Man nannte damals zum Scherz Paris die dritte deutsche Großstadt, weil es nach Berlin und Hamburg in keiner Stadt so viele Deutsche gab. Zum größten Teil waren diese Menschen jedoch sehr arm: sie waren ausgewandert, um Arbeit zu finden.
Eines Tages, als von Bodelschwingh im Frühjahr 1858 durch die Gassen an der Mauer des großen Kirchhofs von Montmartre ging, traf er zwei kleine Mädchen im Alter von sieben und zehn Jahren, die aus Hessen stammen mussten. Das erkannte er an ihrer hessischen Tracht. Er sprach sie an und sie führten ihn zu ihren Eltern, die sich bitterlich beklagten, dass die Mädchen ohne Unterricht aufwüchsen. Daraufhin lud er sie zu sich nach Hause ein und zeigte ihnen den Weg zu seiner Wohnung.
Und tatsächlich, die Mädchen kamen einige Tage später zu dem vereinbarten Termin. Es klopfte an die Tür, und herein traten die beiden kleinen Hessinnen. Von Bodelschwingh ließ die beiden, nachdem sie sich gesetzt hatten, die Hände falten und erbat von Gott einen Segen zu dieser Zusammenkunft. Es war ihm so feierlich zumute, als stände er vor Tausenden von Zuhörern. Er wies die beiden Mädchen auf ein Bild von dem Erlöser am Kreuz hin, das an der Wand hing, und begann eine höchst ungeschickte kurze Erzählung über den Mann mit der Dornenkrone, der um unserer Sünde willen an das Kreuz erhöht wurde.
Mit einem Ausdruck voll Mitleids schaute das kleinere der beiden Mädchen mit ihren dunklen Augen bald auf das Bild, bald auf den Erzähler; dann und wann liefen ihr große Tränen über die braunen Wangen. Von Bodelschwingh ging das sehr nahe.
Er schreibt davon, dass ihm die Freudigkeit zum predigen während seines Theologiestudiums je länger je mehr vergangen war. Doch was er in dieser Stunde mit seinen kleinen Zuhörerinnen erlebte, wurde für ihn entscheidend für sein weiteres Leben. Als die Mädchen wieder gegangen waren, da wusste er wieder, was ihm das Kreuz Christi zu bedeuten hatte. Von dieser Stunde an ist ihm nie wieder ein Zweifel an seiner Berufung gekommen.
Er sollte noch mehr erleben. Bei der Verabschiedung der beiden Kleinen trug er ihnen auf, dass sie weitere Gassenkinder mitbringen sollten, wenn sie wiederkämen. Und tatsächlich, als die beiden Mädchen am nächsten Tag wiederkämen, da hielten sie mit Mühe einen kleinen sechsjährigen Burschen zwischen sich fest, der immer wieder versucht hatte, wegzulaufen. Doch sie hatten ihn jedes Mal wieder eingefangen.
In der Folgezeit kamen immer mehr Kinder dazu. Eins brachte das andere mit. Beständig tauchten neue Gesichter auf. Und von Bodelschwingh wiederholte Tag für Tag seine kleine Lehrmethode: Zuerst wurde ein kleines Lied gesungen, und danach erklärte er das Bild des Gekreuzigten. Er beschrieb die Nägelmale, die Dornenkrone und die Todesschmerzen. Und immer wieder nahmen viele Kinder, auch wenn sie das zum wiederholten Male hörten, innige Anteilnahme. Eine Zeitschrift, mit der Bodelschwingh in Paris missionarisch-publizistische Aktivitäten entfaltete
Von Bodelschwingh schreibt von diesen Tagen: "Dieses unerwartete Sichsammeln der sehr zerstreuten Schar war mir ein Wunder vor meinen Augen. Es wurde mir zur lebendigen Auslegung und zur sichtbaren Erfüllung der Verheißung des Herrn: "Und ich, wenn ich von der Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen." Die wunderbare Anziehungskraft des Kreuzes Christi wurde mir offenbar, und ich sah in dieser schönen Frühlingszeit meines evangelischen Predigtamtes nach jener seligen Erfahrung noch manches liebe Kinderauge glänzen oder feucht werden bei den allereinfachsten Erzählungen von der Liebe Christi, der uns geliebt hat bis zum Tode am Kreuz."
Gewiss haben die Zeiten sich geändert, aber heute gibt es vielleicht ebenso viele Kinder, die in unserem Land aufwachsen, ohne dass sich jemand um sie kümmert, und die noch nie etwas vom Heiland gehört haben. Soll das so bleiben ...?
In der Sprache eines Liedes aus dem 19. Jahrhundert wird die ganze wirkliche Not dieser Menschen ausgedrückt:
Sterbend ein armer Zigeunerknab wacht;
ihm wird die Botschaft des Lebens gebracht.
Hell horcht er auf: "Ist es Wahrheit?" er fragt,
"Niemand hat je mir vom Heiland gesagt".

Sagt es den andern! Es irren umher
Arme und Reiche, die Herzen so leer;
Seelen von Sünde und Sorge gequält,
Niemand hat ihnen vom Heiland erzählt.

Sagt’s noch einmal! Sagt‘s noch einmal!
Kündet die Botschaft zu Berg und zu Tal,
sagt‘s immer wieder, dass keiner mehr klagt:
"Niemand hat je mir vom Heiland gesagt".
Werner Mücher