Bibel praktisch

Magie der runden Zahlen

Runde Jahreszahlen üben seit jeher eine eigenartige Faszination auf die Menschen aus. Für Optimisten markieren sie den Beginn eines neuen Zeitalters, in dem sich alles zum Guten wenden wird; Pessimisten sehen in ihnen das Ende eines untergehenden Zeitalters, auf das nur noch eine Katastrophe folgen kann. Beide Haltungen lassen sich exemplarisch an der letzten Jahrhundertwende beobachten: auf der einen Seite Zukunftseuphorie, hervorgerufen durch den technischen Fortschritt und wirtschaftlichen Aufschwung der Gründerzeit, auf der anderen Seite in weiten Teilen der Gesellschaft und insbesondere in der Kunst eine Stimmung des Verfalls, der Auflösung, der Dekadenz. 100 Jahre später stehen wir vor einem noch viel einschneidenderen Epochenwandel: In dreiein-viertel Jahren geht nicht nur ein Jahrhun-dert, sondern sogar ein Jahrtausend zu Ende - eine Erfahrung, die in der bisherigen Geschichte nur wenige Menschen machen konnten.

Von Optimismus und Zukunftsbegeisterung ist heute freilich wenig zu spüren: Angesichts zunehmender globaler Probleme wie Umweltzerstörung, Bevölkerungsexplosion, Wirtschaftskrisen, Kriegen und Bürgerkriegen löst das Herannahen des Jahres 2000 bei vielen Menschen - auch bei Wissenschaftlern und Intellektuellen - Endzeitge-fühle aus; allenthalben ist vom „Ende der Geschichte", vom „Untergang der Welt" oder von der „globalen Katastrophe" die Rede. Auch viele Christen scheinen von dieser Stimmung ergriffen zu sein, wenn auch aus anderen Gründen und mit anderer Per-spektive. Das Ereignis, auf das sie warten, ist nicht der Weltuntergang, sondern die Wiederkunft Christi zur Entrückung der Seinen, aber auch diese Erwartung wird offenbar durch das Näherkommen des Jahres 2000 neu beflügelt: Spätestens in diesem Jahr, so glauben manche Christen, müsse der Herr Jesus wiederkommen, denn dann seien die 2000 Jahre der Gnadenzeit, die Gott den Menschen gewährt habe, vorüber. Begründet wird diese Sichtweise zum einen mit bestimmten Bibel-stellen, aus denen man die Dauer der Gna-denzeit ableiten zu können meint, zum anderen auch mit nicht aus der Bibel stammenden, aber einleuchtend klingenden Behauptungen. Wie alle Versuche, den Zeitpunkt der Wiederkunft Christi zu bestimmen, ruft freilich auch diese Theorie beim nüchternen Betrachter ein gewisses Unbehagen hervor: Können wir wirklich wissen, wann die Zeit der Gnade zu Ende sein wird? Und wenn ja, woher? Im folgenden wollen wir die geläufigsten Argumente, die zur Stützung der genannten Auffassung vorgebracht werden, einmal auf ihre Stichhaltigkeit hin überprü-fen, um so eine Antwort auf die Frage zu finden, ob der Herr Jesus tatsächlich im Jahr 2000 wiederkommen wird.


3 x 2000 Jahre Weltgeschichte?

Am häufigsten wird die Ansicht, die Gna-denzeit dauere 2000 Jahre, damit begründet, daß auch die Epochen „ohne Gesetz" und „unter Gesetz" jeweils 2000 Jahre um-faßt hätten. Diese Annahme ist jedoch falsch. Das Gesetz wurde bekanntlich nach dem Auszug Israels aus Ägypten gegeben, und dieser fand nach Auffassung der bibeltreuen Forschung etwa um 1445 v.Chr. statt. Für die Zeit unter Gesetz, die mit Christus endete (vgl. Röm 10,4), ergeben sich also maximal 1500 Jahre. Die Zeit ohne Gesetz wiederum war bedeutend länger als 2000 Jahre: Auch wenn für den Beginn dieser Epoche (die Erschaffung des Menschen) kein genaues Datum angegeben werden kann - Berechnungen schwanken zwischen 4220 und 4004 v. Chr. -, so muß man doch von mindestens 2500, wenn nicht gar 2700 Jahren ausgehen. Die verlockende Aufteilung der Weltgeschichte in 3 x 2000 Jahre hält somit einer genaueren Überprüfung nicht stand - die Länge der Gnadenzeit kann aus der Länge der beiden vorangegangenen Epochen nicht abgeleitet werden.


1 Tag = 1000 Jahre?

Eine Reihe weiterer Argumente für die These, die Zeit der Gnade dauere 2000 Jahre, ist auf die Aussage des Apostels Petrus aufge-baut, bei dem Herrn sei ein Tag wie tausend Jahre (2. Pet 3,8; vgl. Ps 90,4). Dieser Vers wird zur Grundlage genommen, um verschiedene Tagesangaben der Bibel in Jahrtausende umzurechnen. Hier muß zunächst einmal grundsätzlich gefragt werden, ob eine solche Anwendung einen sachgemäßen Umgang mit der Bibel darstellt. Aus dem Zusammenhang in 2. Petrus 3 wird deutlich, daß es dem Verfasser nicht darum geht, eine Formel für chronologische Berechnungen bereitzustellen, sondern er will auf die Souveränität und Unabhängigkeit Gottes im Hinblick auf die Zeit aufmerksam machen: Für Ihn gibt es im Grunde keinen Unterschied zwischen einem Tag und 1000 Jahren; was für uns eine unendlich lange Zeit ist, ist für Ihn ein bloßer Augenblick. Wenn der Herr daher in den vergangenen knapp 2000 Jahren noch nicht wiedergekommen ist, so ist dies keineswegs ein „Verzug" (Vers 9); für Ihn war diese Zeit wie zwei Tage. - Aber selbst wenn der Vers aus dem 2. Petrusbrief als Grundlage für Berechnungen dienen könnte, so führt seine Anwendung auf bestimmte Tagesangaben der Bibel doch nicht zu überzeugenden Ergebnissen. Von den zahlreichen Stellen, die in diesem Zusammenhang herangezogen werden, seien nur wenige genannt:

 

6 Schöpfungstage = 6000 Jahre?

Aus der Tatsache, daß Gott die Welt in 6 Tagen erschaffen hat, wird geschlossen, daß die Weltgeschichte 6000 Jahre dauere; der 7. Tag - der Tag der Ruhe - entspreche dem 1000jährigen Reich (Offb 20). Gegen diese Deutung kann mehreres eingewendet wer-den: Erstens lassen sich die bisherigen ca. 6000 Jahre der Menschheitsgeschichte nicht ohne weiteres in 6 in sich abgeschlossene Perioden von je 1000 Jahren aufteilen; zweitens kann die Erschaffung des Menschen, wie bereits angedeutet, nicht mit Bestimmtheit auf das Jahr 4000 v.Chr. datiert werden - wenn sie bereits 4220 v.Chr. stattfand, wie manche Ausleger annehmen, wären die 6000 Jahre bereits 1780 abgelaufen; drittens schließlich könnte man 2. Petrus 3,8 mit dem gleichen Recht auch so auf den Schöpfungs-bericht anwenden, daß man jeden Tag der Schöpfung als Epoche von 1000 Jahren auf-faßte, was vom Text her ebensowenig zu belegen wäre. All dies zeigt deutlich, daß mit der Ubertragung der Schöpfungstage auf Epochen der Heilsgeschichte äußerst vorsichtig umgegangen werden muß.


2 Tage = 2000 Jahre?

Wurden die 6 Tage der Schöpfung als prophetischer Hinweis auf die Länge der gesamten Weltgeschichte aufgefaßt, so sollen einige Stellen des Neuen Testaments, an denen von 2 Tagen die Rede ist, die Dauer der Gnadenzeit symbolisieren. Genannt werden hier vor allem Johannes 4,40 (der Herr Jesus bleibt 2 Tage in Sichar), Johannes 11,6 (der Herr Jesus wartet 2 Tage, bis Er nach Bethanien geht) und Johannes 2,1 (die Hochzeit zu Kana - die nach vielen Auslegern ein Bild des 1000jährigen Reiches ist - findet „am dritten Tag" statt). Auch in diesen Fällen handelt es sich freilich um willkürliche Deutungen, die im Text selbst keine Stütze finden und weit über ihn hinausgehen. Dasselbe gilt für die gelegentlich zu hörende Ansicht, die Länge der Weltgeschichte könne aus den 6 Tagen vor der Verklärung Jesu (Mt 17,1 und Mk 9,2) abgeleitet werden.


2 Denare = 2000 Jahre?

Das vielleicht fragwürdigste und am weitesten hergeholte Argument für die These, die Zeit der Gnade dauere 2000 Jahre, gründet sich auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37). Der Herr Jesus schildert hier, wie ein Samariter einen Menschen, der unter die Räuber gefallen ist, in eine Herberge bringt und dem Wirt 2 Denare für die Versorgung des Verwundeten hinterläßt (Vers 35). Ohne Zweifel ist dieser Samariter ein Bild des Herrn Jesus selbst, der in Seiner Liebe die verlorenen Menschen errettet und für die Zeit Seiner Abwesenheit dem Heiligen Geist anvertraut hat. Was aber bedeuten die 2 Denare? Nicht wenige glauben, hierin einen Hinweis auf die Länge der Gnadenzeit erkennen zu können. Sie bringen diesen Vers mit Matthäus 20,2 in Verbindung, wo es heißt, daß der gewöhnliche Tageslohn eines Arbeiters 1 Denar betrug; die 2 Denare des Samariters werden daher mit 2 Tagen gleichgesetzt und unter Hinzuziehung von 2. Petrus 3,8 als 2000 Jahre gedeutet. Dabei wird jedoch ein wichtiger Punkt übersehen: Am Ende von Vers 35 versichert der Samariter dem Wirt, wenn er noch mehr Geld benötige, werde er es ihm bezahlen, wenn er wiederkomme; er rechnet also durchaus damit, daß die Kosten auch 3 oder 4 Denare betragen könnten. Bei Anwendung der obigen Formel ergäbe sich daraus eine Gnadenzeit von 3000 oder 4000 Jahren - eine Schlußfol-gerung, vor der die meisten Christen sicherlich zurückschrecken würden. Abgesehen davon ist es zweifelhaft, ob der Tageslohn eines Arbeiters ohne weiteres mit den täglichen Kosten für die Pflege eines Verwundeten gleichgesetzt werden kann. Auch diese Stelle ist somit als Grundlage für eine Berechnung der Dauer der Gnadenzeit ungeeignet.

 

Wann enden die „2000 Jahre"?

Wie wir gesehen haben, kann die Behauptung, die Zeit der Gnade dauere 2000 Jahre, weder durch Bibelstellen noch durch außerbiblische Argumente bewiesen werden; sie stützt sich lediglich auf Mutmaßungen und Uberinterpretationen einzelner Bibelverse. Da ihr jedoch das Heranrücken des Jahres 2000 neuen Auftrieb zu geben scheint, soll auf die Bedeutung dieses Jahres noch kurz eingegangen werden. Selbst wenn nämlich die Gnadenzeit tatsächlich 2000 Jahre dau-ert, so würde dies keineswegs bedeuten, daß sie im Jahr 2000 endete - sie begann ja nicht im Jahr 0 (das es in der Chronologie ohnehin nicht gibt), sondern entweder mit der Geburt oder mit dem Tod Jesu. Vermutlich ist es sinnvoller, vom Tod Jesu auszugehen, denn dadurch wurde ja erst die Grundlage dafür geschaffen, daß allen Menschen Gottes Gnade zugewendet werden kann; der Beginn der Gnadenzeit fiele somit etwa in das Jahr 30 n.Chr., ihr Ende in das Jahr 2030, d.h., es lägen noch 34 Jahre bis zum Kommen des Herrn vor uns! Auch diese Schlußfolgerung würden die meisten Vertreter der 2000-Jahre-Theorie zweifellos zurückweisen - was nur beweist, daß sie ihre Auffassung nicht konsequent zu Ende gedacht haben. Geht man andererseits von der Geburt Jesu als Beginn der Gnadenzeit aus, so wären 2000 Jahre wahrscheinlich schon vorüber, denn der Herr Jesus wurde bekanntlich nicht im Jahr 1, sondern etwas früher geboren - vielleicht im Jahr 7 v.Chr., wie heute allgemein angenommen wird, spätestens jedoch im Jahr 4 v.Chr., denn in diesem Jahr starb Herodes der Große, in dessen Regierungszeit die Geburt Jesu fiel (vgl. Mt 2,1). Gerade diese Unstimmigkeit zwischen unserer Jahreszählung und der tatsächlichen Geburt Jesu, die auf einen Be-rechnungsfehler des Mönchs Dionysius Exi-guus (um 525) zurückgeht, sollte uns hinsichtlich der Magie der runden Zahlen skeptisch machen, und wir sollten dem Jahr 2000 keine größere Bedeutung beimessen, als ihm gebührt.


Er kommt bald

Wozu sollte diese lange Erörterung nun eigentlich dienen? so mögen sich manche Leser fragen. Sollte etwa das nahe Bevorstehen der Wiederkunft Christi in Zweifel gezogen werden? Keineswegs! Die Bibel sagt uns ja ganz deutlich, daß der Herr „bald" wiederkommen wird (z.B. Offb 3,11; 22,7. 12.20). Aber sie sagt uns ebenso deutlich, daß wir den genauen Zeitpunkt nicht wissen oder berechnen können (vgl. Mt 24,36.42; 25,13; Mk 13,32f.35; Apg 1,7). Paulus erwartete die Wiederkunft Christi bereits zu seinen Lebzeiten - in 1. Thessalonicher 4,15 zählt er sich zu den „Lebenden, die übrig-bleiben bis zur Ankunft des Herrn". Heute, fast 1950 Jahre später, müssen wir feststel-len, daß der Herr noch immer nicht gekommen ist. Es ist Seine Langmut, die Ihn so lange hat warten lassen, denn Er „will nicht, daß irgend welche verlorengehen, sondern daß alle zur Buße kommen" (2. Pet 3,9). „Lang" war diese Zeit ohnehin nur für uns Menschen; für Ihn sind ja, wie wir gesehen haben, „tausend Jahre wie ein Tag" (2. Pet 3,8). Daher ist auch Sein „Bald" nicht mit menschlichen Maßstäben zu messen - was für uns wenige Tage oder Wochen bedeutet, kann für Ihn zwei Jahrtausende und mehr beinhalten. Vielleicht geht dieses „Bald" noch heute in Erfüllung, vielleicht morgen, vielleicht erst in einigen Jahren, vielleicht sogar im Jahr 2000 - wir wissen es einfach nicht, und wir können es auch nicht berechnen. Könnten wir es - welche Auswirkungen würde dies auf unser Leben haben? Bestünde nicht die Gefahr, daß wir uns vorläufig mehr mit irdischen Dingen als mit Ihm beschäftigen und erst kurz vor dem Termin Seines Kommens bewußt in Seine Nachfolge treten würden? Und würden nicht Menschen davon abgehalten, sich heute zu bekehren? So aber müssen wir ständig bereit sein, Ihn ständig erwarten - und das bedeutet, daß wir stets so leben sollten, daß wir Ihm im selben Augenblick gegenübertreten könnten. Die Bibel nennt dies „wachen", und sie gibt uns an zahlreichen Stellen entsprechende Ermahnungen (Mt 24,42; 25,13; Mk 13,33.35.37; Lk 12,37; 21,36; 1. Kor 16,13; 1. Thes 5,6). Lassen wir uns also nicht durch spekulative Theorien und Berechnungen in die Irre führen; begnügen wir uns mit dem, was die Bibel uns sagt: Der Herr kommt bald.