Glaube im Alltag

Christsein und Kultur[1]

Andere Länder – andere Sitten?

 

Große Menschenmengen kamen zu Johannes dem Täufer und hörten ihm zu, als dieser am Jordan seinen Predigtdienst begann (Lk 3,7-14). Wenn nun einige von der Volksmenge Buße tun wollten, teilte Johannes ihnen mit, dass sie die Echtheit ihres Wunsches beweisen und ihren Besitz mit den Armen teilen sollten. Zöllnern gegenüber, die ihn fragten, was sie tun sollten, sprach Johannes von Ehrlichkeit, und zu Soldaten redete er von Freundlichkeit und Zufriedenheit. Jede dieser Gruppen lebte in einer ganz eigenen Erfahrungswelt, die sie nicht nur prägte, sondern sie auch vor unterschiedliche Herausforderungen stellte. Genauso ist es mit uns Christen: Wir leben nicht nur einfach in der Welt, sondern haben Teil an bestimmten Aktivitäten, je nachdem, wo wir wohnen und wer wir sind. Und weil wir Gottes Volk sind, können wir das Licht Gottes in unsere Umgebung hineinleuchten lassen, auch wenn unser Zeugnis für Gott oft abgewiesen wird.

 

Was ist Kultur?

Die Umgebung, in der wir leben, wird oft „Kultur” genannt. Dieser Begriff beinhaltet Werte, Vorlieben und Verhaltensweisen, die zusammen ein Land, eine Region oder eine Gesellschaft von Menschen kennzeichnen. Viele Einzelheiten unserer Kultur sind zwangsläufig ein Teil dessen, was wir sind. Was wir als höflich, angemessen, lustig, unhöflich, interessant oder wichtig ansehen, wird uns sozusagen aufgeprägt, je nachdem, in welcher Gesellschaft wir leben. Es gibt zum Beispiel manche Nationalitäten oder ethnische Gruppen, die ihre Emotionen deutlicher nach außen tragen als andere, die eher nüchtern erscheinen. Es gibt viele solcher Kennzeichen, die je nach Kultur variieren.

Viele kulturelle Normen oder typische Verhaltensweisen spiegeln ganz einfach allgemeingültige Vorstellungen über das Leben wider und eignen sich dafür, christliche Überzeugungen zu leben. In einer Gesellschaft zum Beispiel, die Fleiß wertschätzt, können Christen „als dem Herrn“ arbeiten (Eph 6,7). In einer Kultur, in der Kreativität viel bedeutet, können Christen Gedichte schreiben oder künstlerisch tätig sein zur Ehre Gottes. Sofern wir also an der Kultur in unserem Lebensumfeld beteiligt sind, können wir als Christen in unseren Familien, in unserem Schul- und Arbeitsleben und in unserem persönlichen Verhalten die Schönheit Christi darstellen.

 

Einfluss von Kultur auf das Christsein

Kultur kann auch Einfluss haben auf die Weise, in der Christen ihren Glauben ausleben. Diese unterschiedlichen Arten können Gott zur Ehre sein, obwohl sie von anderen Kulturen als ungewöhnlich empfunden werden. Ein lebhafter, enthusiastischer Gesang kann von Gläubigen aus nüchterneren Kulturen als unpassend empfunden werden – genauso wie ein lebhafter, extrovertierter Christ klassische Choräle kalt und leblos finden kann. Trotzdem können beide in ihrem Gesang den Herrn in einer reinen und selbstlosen Weise anbeten. In manchen Kulturen sitzen Männer und Frauen in den christlichen Zusammenkünften getrennt, während man in anderen als ganze Familien zusammensitzt. Diese kulturellen Traditionen sind kein Vor- oder Nachteil, sondern bloß Ausflüsse dessen, wer wir sind und wo wir leben.

 

Die Gewohnheiten der Umgebung beachten

Ähnliche Merkmale von Kultur können anhand von Gläubigen in der Schrift veranschaulicht werden. Als Joseph Herrscher in Ägypten wurde, lebte er entsprechend den kulturellen Gewohnheiten Ägyptens. Er nahm die Ehrerbietung an, die ihm in seiner Position zukam, und arbeitete für den Wohlstand des Landes (1. Mo 41,42-45; 47,20-26). Seine Sprache und sein Auftreten waren so vollständig ägyptisch, dass er von seiner Familie zuerst nicht erkannt werden konnte. Auch die Trennung, die zwischen Ägyptern und Hebräern üblich war3, beachtete er, wenn es angemessen war (1. Mo 42,7-8.23; 43,32-34; 46,33-34).

Ebenso zeichneten sich Daniel und seine Freunde nach ihrer Wegführung nach Babel dadurch aus, dass sie die dortige Literatur und das Wissen erlernten und das Wohl des Königs ihnen ein Anliegen war (Dan 1,20; 4,19). Unter persischer Herrschaft beachtete Mordokai später die kulturellen Vorschriften gegen öffentliches Trauern am königlichen Hof (Est 4,1-2). Im Neuen Testament beschnitt Paulus Timotheus3, um anderen keinen Grund zum Anstoß zu geben, obwohl die Beschneidung offiziell als für Christen nicht mehr notwendig erklärt worden war (Apg 15,5.10-11; 16,3).

In diesen verschiedenen Umständen lebten die Gläubigen nicht einfach nur innerhalb ihrer Kultur, sie  „schmückten“ sie auch. Sie führten ein ehrenhaftes Leben, nicht bloß aus Respekt gegenüber lokalen Gebräuchen, sondern aus Ehrfurcht vor ihrem Herrn. Paulus sagte: „Darum bemühe ich mich auch, allezeit ein Gewissen ohne Anstoß zu haben vor Gott und den Menschen“ (Apg 24,16). Gottesfürchtige Menschen bereichern die Kultur, die Gesellschaft, mit ihrer Ehrenhaftigkeit.

 

Grenzen ziehen

Dennoch enthält diese Untersuchung der Kultur auch eine Warnung, denn Kultur verlangt oft, die Grenzen der Gottesfurcht zu überschreiten. Daniel lehnte es ab, von der Speise des Königs zu essen, weil er Gott nicht verunehren wollte (Dan 1,8). Mordokai weigerte sich, sich vor den Fürsten des Königs zu beugen, auch wenn das sowohl Vorschrift als auch Sitte war (Est 3,2). In der Zeit von Paulus sollten sich die Gläubigen aus den Nationen der grassierenden sexuellen Unmoral enthalten, die in ihren Kulturen durchaus akzeptiert wurde (Apg 15,20; 1. Thes 4,3.4).

 

Der urteilsfähige Christ

All das zeigt, dass Christen ein gutes Unterscheidungsvermögen in Bezug auf Kultur haben sollten. Es wäre falsch, sich von unserer Kultur lösen zu wollen, erstens weil es nicht der schriftgemäße Weg ist und zweitens, weil es eigentlich auch gar nicht möglich ist. Aber es wäre auch falsch zu glauben, dass alles in unserer Kultur „verchristlicht“ werden könnte, denn viele Dinge stehen im direkten Widerspruch zu Gottes Wegen.

Dieses Abwägen zeigt die Schwierigkeit und Herausforderung für uns, die Anweisung des Herrn zu befolgen, in der Welt, aber nicht von der Welt zu sein (Joh 17,6-18). Jahrhundertelang haben christliche Versammlungen oder Gemeinden mit der Umsetzung dieses Gebots gerungen. Manche sahen die Lösung im großen Irrtum der gesellschaftlichen Isolation (d. h. sich möglichst von der Kultur zurückzuziehen), was dazu führen kann, einen Moral- oder Verhaltenskodex einzurichten, den Gottes Gnade gar nicht fordert. Andere machen den Fehler, dass sie kulturelle Verhaltensweisen einfach übernehmen und sich auf diese Weise anpassen. Dabei sehen sie das Wort Gottes als ein Relikt einer vergangenen Kultur. Sie meinen, die Bibel müsse immer wieder neu interpretiert werden.

Der urteilsfähige Christ zeigt eine biblisch begründete Reaktion auf beide Irrtümer. Das erfordert allerdings Abhängigkeit von Gott und von seinem Wort. Doch unter der Führung des Heiligen Geistes kann das Verhältnis zwischen Kultur und Glaube in einer Weise ausgelebt werden, die Gott ehrt, unter Gläubigen ebenso wie unter Ungläubigen.

 

Christliche Grundsätze – wichtiger als Kultur-Traditionen

Es stimmt, dass wir alle Kinder unserer Kultur sind, wobei die Kultur gegenüber dem Christsein in den Hintergrund tritt. Petrus schrieb über die „Brüderschaft“ von Gläubigen (1. Pet 2,17; 5,9) und benutzte dabei ein besonderes Wort, um die christliche Einheit als ein Band darzustellen, das alle kulturellen Unterschiede in Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, Nationalität oder Sitte überragt. Christsein muss unser erstes Kennzeichen sein! Der Autor dieses Artikels ist ein Weißer mit US-amerikanischer Staatsangehörigkeit, und all diese Faktoren haben einen kulturellen Einfluss auch auf sein Alltagsleben. Aber ich sollte mich nicht an erster Stelle als weißer Christ oder als amerikanischer Christ ansehen, denn dann würde ich christliche Grundsätze durch die „kulturelle Brille“ betrachten.

Daher liegt es nahe, dass wir der Kultur nicht erlauben dürfen, uns vorzuschreiben, wie wir christliche Grundsätze anzuwenden haben. Kultur muss hinter dem eigentlichen, von Gott gegebenen Glaubensgut und dem Christsein der Anfangszeit zurücktreten, das Judas 3 als den „einmal den Heiligen überlieferten Glauben“ beschreibt. In der Zeit von Judas hatten sich Ungläubige unter die Gläubigen eingeschlichen, und sie benutzten die Gnade Gottes als Ausrede für Sünden wie Habgier und Rebellion. Wenn wir uns auf die ursprünglichen, gottgegebenen Prinzipien des Christentums stützen, werden wir in der Wahrheit befestigt werden. Dann werden wir weiterhin Sünde als Sünde bezeichnen, auch wenn Dinge wie Gier und Unmoral in einer Gesellschaft normal werden.

 

Kulturelle Traditionen – nicht automatisch christliche Grundsätze

Eine andere Gefahr entsteht, wenn die Kultur so eng mit dem Glauben verflochten ist, dass wir unsere Traditionen als echte christliche Grundsätze betrachten. Zum Beispiel musste Petrus von Gott angewiesen werden, das Evangelium auch den Nationen mitzuteilen. Er und andere hatten gedacht, dass sie keinerlei Kontakt mit Nicht-Juden haben sollten (Apg 10,28; 11,3). Solche Regeln gehörten zu der mündlichen jüdischen Überlieferung und sind in Schriften jüdischer Rabbiner enthalten – aber nicht in den Schriften des Alten Testaments. Außerdem hatte der Herr Jesus seinen Jüngern schon gesagt, dass allen Nationen das Evangelium gepredigt werden sollte (Lk 24,47). Die (übertriebene) Trennung, die sie für Gott gewollt hielten, war nur eine kulturelle Tradition, die über das Wort Gottes ebenso hinausging wie über die wörtlichen Hinweise Christi selbst.

Die Lektionen aus Apostelgeschichte 10,1-11,18 wiegen schwer. Weil wir tagtäglich in einer Kultur leben, kann es sein, dass wir glauben, die Art und Weise, wie wir unser Christsein ausleben, sei die richtige – und übersehen dabei, dass unsere Sichtweise manchmal von unserer Kultur gefärbt ist. In Petrus‘ Fall ging die Kultur über die Schrift hinaus. In anderen Fällen können Kultur und Schrift vielleicht für uns persönlich nebeneinander bestehen, aber verursachen anderswo starke Konflikte. Manche Christen haben bestimmte Ansichten über Alkohol, Zigaretten, Kaffee, Kleidung, Musik usw.; und diese sind ihrer Meinung nach in der Schrift begründet. Christen aus anderen Kulturen denken entweder vielleicht toleranter oder aber denken strenger über dieselben Punkte und werden jeweils auch Erklärungen aus der Schrift dafür haben4.

 

Verschiedene Kulturkreise – verschiedene Glaubensausprägungen

Kultur ist nicht allgemeingültig, und obwohl sich das Wort Gottes nie der Kultur unterordnet, gibt es oft mehr als einen Weg, dieselbe Wahrheit auszuleben. Der urteilsfähige Christ versucht, das Wesentliche von Vorlieben zu unterscheiden. Was für eine Rolle sollen Frauen in der Versammlung (Gemeinde) spielen? Welche Bedeutung hat die Kopfbedeckung? Welche Arten von Schmuck sind angemessen? Was für Freizeitaktivitäten sind zulässig? Einige dieser Themen werden in der Bibel konkret angesprochen5 und sind daher keine Frage der Kultur. Andere Themen werden nur indirekt angesprochen, und wieder andere werden gar nicht erwähnt; in solchen Fällen suchen wir nach gottgemäßen Prinzipien, die sowohl den Ansprüchen der Schrift als auch unseren Gewissen als Christen entsprechen.

Manchmal kommen Gläubige aus unterschiedlichen Kulturen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Doch wir sollten immer vorsichtig darin sein, andere Gläubige zu kritisieren, weil wir natürlicherweise zu dem tendieren, was unserer eigenen Kultur am ähnlichsten ist. Dieses Phänomen löste schon unter den ersten Christen Schwierigkeiten aus, z.B. bei der Versorgung der Witwen unterschiedlicher Herkunft (Apg 6,1). Wir stehen in derselben Gefahr, wenn wir die kulturell bedingten Vorlieben anderer auf der Basis unserer eigenen Prägung beurteilen. Wenn eine Sache in der Bibel nicht explizit angesprochen wird, sollten wir versuchen, die Freiheit in Christus zu respektieren. Er hat uns gelehrt, dass Verunreinigung nicht durch Äußeres verursacht wird, sondern aus dem Herzen kommt (Mk 7,14-23).

 

Menschen aller Kulturen zur Rettung eingeladen

Ein weiteres göttliches Prinzip ist dieses: Menschen aller Kulturen können zu Gott kommen. Der Beschluss der Apostel und Ältesten in Apostelgeschichte 15 (Apostelkonzil) bestätigt diese Wahrheit. Während einige darauf bestanden, dass Heiden beschnitten werden sollten (d. h. wie Juden werden sollten), wenn sie gerettet werden wollten, erklärte dieser vom Heiligen Geist geleitete Beschluss, dass Gläubige aus den Nationen nicht beschnitten zu werden brauchten. Natürlich sollten sie ein reines Leben führen und waren dabei an vier wichtige Gebote gebunden, aber mehr wird ihnen hier nicht auferlegt (Apg 15,5.28.29)6. Sowohl auf dem Missionsfeld im Ausland als auch in der Nachbarschaft besteht die Gefahr, dass man Gläubigen, die jung bekehrt sind, sagt, wie sie bestimmte Dinge zu tun und zu lassen haben. Dabei drückt man ihnen zum Beispiel den eigenen Musikstil oder irgendwelche Lebensgewohnheiten auf. Aber wenn wir Gott vertrauen, werden wir beobachten können, dass Er sie dahin führt, die Wahrheit in der richtigen Art und Weise auszuleben. Gott hat uns nicht beauftragt, Menschen zu Proselyten zu machen, nur damit sie so handeln wie wir (Mt 23,15).

Weil alle Völker den Namen des Herrn anrufen können, wo sie leben, ist es für Christen wichtig, aktiv an ihrem Lebensumfeld teilzunehmen. Das heißt nicht, dass wir gottlose Dinge von der Welt um uns her übernehmen sollen. Aber wenn wir als das Salz der Erde und das Licht der Welt leben (Mt 5,13-16) wollen, werden wir aktiv und bewusst etwas von Christus in die Schule, die Nachbarschaft und die Gesellschaft im Allgemeinen hineintragen.

 

Fazit

Die Menschen dieser Welt sind durch ihre Kultur miteinander verbunden. Sofern Alter, Sprache, ethnischer Hintergrund, Einkommen und ähnliche Dinge sich stark unterscheiden, leben sie getrennt voneinander. In der Versammlung (Gemeinde) sollten wir bewusst darauf achten, dass diese Faktoren nicht unserem Einssein im Wege stehen oder unser Verständnis von Gottes ewigem Wort beeinflussen.  Lasst uns stattdessen treu von dem Herrn zeugen und die Kultur als Instrument für ein Christus-orientiertes Leben nutzen, während wir gleichzeitig ihre Einflüsse überwinden. Dabei wollen nicht der Welt gleichförmig werden, sondern prüfen, was Gottes guter und vollkommener Wille ist (1. Joh 5,4.5; Röm 12,2).

 

Stephen Campbell

(aus Grace & Truth, Februar 2016, mit freundlicher Genehmigung des Verlags)



[1] Anm. d. Übers.:

Der folgende Text stammt aus dem Amerikanischen und trägt ursprünglich den Titel „Christianity And Culture“, übersetzt „Christentum und Kultur“. Mit „Christentum“ ist auch das persönliche, praktizierte Christsein gemeint, „christianity“ wurde demnach oft auch mit „Christsein“ übersetzt. „Culture“ wird im Text oft auch dann verwendet, wenn im Deutschen eher andere Wörter gebraucht würden (wie z.B. „Gesellschaft“). Um die den Text durchziehende Kontrastlinie „Christentum – Kultur“ zu wahren, wurde aber fast immer „Kultur“ übersetzt.

 
[2] Hier geht es um eine kulturelle Trennung, die beachtet werden konnte, während sich das getrennte Essen zwischen Heiden und Juden in Galater 2 gegen die Botschaft des Evangeliums richtete und deshalb von Paulus verurteilt wurde (Anm. der Red. von FMN).
[3] Dabei gilt es zu bedenken, dass Timotheus über seine Mutter Halbjude war. Das machte den Anstoß für Juden aus. Im Falle eines Christen aus den Nationen – Titus – war Paulus durchaus nicht bereit, diesen Weg zu gehen. (Gal 2,3-6). (Anm. der Red. von FMN)
[4] Das bedeutet natürlich nicht eine Beliebigkeit der Schrifterklärung, sondern spornt zu demütigem Nachdenken unter Gebet an, um den Willen Gottes zu erkennen – in den Grundsätzen gilt dieser ja weltweit gleich (Anmerkung der Red. von FMN).
[5] Zum Beispiel die ersten drei der genannten Punkte (Anmerkung der Red. von FMN).
[6] Dass die Gläubigen uns von jeder Art des Bösen fernhalten sollen, bleibt davon unberührt (vgl. 1. Thes 5,12).